Die Träume der Libussa (German Edition)
Blut
sprudelte hervor, wuchs zu einem reißenden Fluss heran, bis sie fürchtete, in
ihm zu ertrinken. Das eben verzehrte Essen stieg widerspenstig in ihrer Kehle
hoch, sie würgte, bis das Rot um sie herum plötzlich wieder verschwand.
Als Libussa den
Saal erneut wahrnehmen konnte, stand Thetka in ihrer ganzen Größe vor ihr. Sie
trug ein buntes, üppig verziertes Gewand, das einmal Olga von den Lemuzi gehört
hatte. Ein Gürtel, an dem ihr Dolch hing, hielt es zusammen, doch es saß immer
noch lose an ihrem Körper. Libussa ahnte, dass ihre Schwester in Zabrusany
nichts Besseres zum Anziehen für den großen Auftritt gefunden hatte. Und diesen
Augenblick hatte sie ganz bewusst gewählt. Das Korochun-Fest, bei dem alle
fürstlichen Clans versammelt waren.
Eine Gruppe von
Kriegern stand hinter Thetka. Die drei Vertrauten, die mit ihr losgezogen
waren. Doch im Hintergrund erkannte Libussa Vojmir, einen der Angreifer aus dem
Wald. Er trug gemeinsam mit einem anderen Mann eine Bahre. Die Gruppe baute
sich triumphierend vor den Gästen auf.
„Tyr ist tot.
Wir bringen seinen Leichnam“, verkündete Thetka mit lauter Stimme.
Die Bahre wurde
in die Mitte des Saales gebracht und Libussa schauderte. Tyr war jener Mensch,
der wie ein Tier geschlachtet worden war. Mit halb aufgerissenem Mund lag der
Nordmann in seinem Blut. Entsetzt und angewidert wandte sie sich von diesem
Anblick ab. War das der Preis ihres Sieges? Konnte sie die alte Ordnung nicht
wahren, ohne zu morden?
Das Jubeln der
Gäste tat ihren Ohren weh. Sie sah, wie Thetka ihre Arme in die Höhe hob. Rufe
der Freude und Anerkennung hallten durch den Saal.
„Ich kam zu ihm
als Gesandte. Mir fiel sofort auf, dass ich ihm gefiel. Also ließ ich ihn nach
mir lechzen.“
Gelächter und
Klatschen machte sich breit. Thetka schwang ihre Hüften. „Ich habe ihm
allerhand versprochen. Dass er mein Gefährte werden könnte und wie wir
gemeinsam herrschen würden. Aber grobschlächtige Männer gefallen mir nicht.
Also sah ich mich anderweitig um. Es fand sich ein Krieger nach meinem
Geschmack.“
Sie streckte
die Hand aus und ein großer, muskulöser Mann aus ihrem Gefolge trat vor. Sein
Haar schien so weiß wie das eines Greises, aber er musste jünger sein als
Thetka, denn er hatte ein knabenhaftes, unfertiges Gesicht. An seinen Augen
fehlten scheinbar die Wimpern, doch vermutlich waren sie nur so blass wie seine
Augenbrauen und deshalb nicht zu sehen. Libussa dachte an die Fuchsfelle aus
dem Land des ewigen Frosts. Waren auch die Menschen dort silbrig-weiß?
„Das ist Eric!
Zusammen mit ihm schaffte ich den Unruhestifter aus dem Weg.“ Mit einer
besitzergreifenden Geste zog Thetka den Jungen an sich heran. Er grinste. Seine
Lage schien ihm nicht zu mißfallen, denn er musterte seine Begleiterin mit
leuchtenden Augen.
Thetka ließ
sich an ihrem angestammten Platz nieder, wo die anwesenden Gäste sie sogleich
umringten. Libussa lauschte der stolzen Stimme ihrer Schwester, die ihre
Geschichte nun nochmals ausführlicher schilderte: „Kurz nachdem ich ankam
begannen die heftigen Schneefälle. Das war gut, denn ich hatte einen Grund,
länger zu bleiben. Ich gab vor, Tyr unsere Sitten und Bräuche erklären zu
wollen, die er als neuer Stammesfürst natürlich kennen sollte. Er hörte zu und
dachte, er könne mich so täuschen, aber mir waren seine lüsternen Blicke
aufgefallen. Ich machte ihn heiß und ließ ihn zappeln.“
Es erleichterte
Libussa, dass Ludmilla nicht im Raum war, um sich diese Geschichte anhören zu
müssen. Jener Mann, unter dessen wuchtigem Körper sie hilflos gelegen hatte,
war angeblich von den Verführungskünsten einer anderen Frau umgarnt und zum
Narren gehalten worden.
„Indessen hörte
ich mich um", fuhr Thetka fort. „Verbündete waren schnell gefunden, denn
Tyr verstand es nicht, sich beliebt zu machen. Der geschickteste und mutigste von
ihnen war Eric, der seinen grausamen Herrn ins Totenreich schickte!“
Wieder ertönten
Jubelschreie. Das Gesicht des Knaben färbte sich dunkelrot und er grinste
verlegen. Dabei musterte er Thetka, als sei sie ein kostbares Geschenk der
Götter. Wie es gerade ihm zugefallen sein konnte, vermochte er wohl nicht ganz
zu verstehen.
Bis zum
Morgengrauen dauerte die Feier von Thetkas siegreicher Heimkehr, und die Mägde
mussten immer wieder neue Krüge anschleppen. Nach einer Weile gab Libussa den
Befehl, man möge Tyrs Leichnam aus dem Saal schaffen. Sie wollte ihn verbrennen
lassen, um seine
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