Die träumende Welt 02 - Das Schattenreich
waren. Sie waren den ungleichen Waagschalen des Turmes gewichen.
Diese Soldaten nahmen Aufstellung um das Fundament des Turmes, unternahmen aber sonst nichts.
»Er scheint großen Wert auf seine Ungestörtheit zu legen«, bemerkte Hewe in einem erfolglosen Versuch, gleichmütig zu klingen.
Für den Rest dieses Tages und die darauffolgende Nacht verkroch Great Newport sich in sich selbst - die Stadt befand sich im Schockzustand, und man hörte nur ein leises Flüstern. Der große Metallturm, den mancher auf vierzig Stockwerke schätzte, reckte sich schweigend und erhaben in die Höhe und schien jeden Versuch verhöhnen zu wollen, sein Geheimnis zu ergründen. Die Soldaten an seinem Fundament befanden sich noch immer auf ihren Posten, doch niemand wagte es, sich ihnen zu nähern. Während der Nacht vermehrte sich das Flüstern und wurde lauter. Ein Unwetter braute sich zusammen, und die einzige Frage war, wo der Blitz zuerst einschlagen würde. Einige der schlaueren Gildenmitglieder trafen eilige Vorbereitungen zum Verlassen der Stadt. Ihr Führer hatte sie im Stich gelassen, und sie wussten, dass die Zeit gekommen war, alle Hoffnung aufzugeben. Das heimlichtuerische Geschiebe von Menschen und Material war wie Öl im Feuer der Gerüchteküche und schien all denen aus dem Untergrund recht geben zu wollen, die augenblicklich losschlagen wollten, solange die Gilde sich in Auflösung befand. Egan drückte es am knappsten aus in einem seiner regelmäßigen Berichte für Hewe und Paule, die sich jetzt wieder in ihrem unterirdischen Versteck befanden.
»Jetzt können wir die Gilde fertigmachen!« sagte er voller Eifer. »Sie bricht in Splittergruppen auseinander, und ihre Soldaten sind ein Trümmerhaufen. Jeder ist im Schock, doch die Leuten fangen an, die Gilde für den Turm verantwortlich zu machen. Schließlich haben sie seiner Errichtung zugestimmt. Wenn wir jetzt angreifen, werden wir mehr Unterstützung bekommen, als wir jemals hoffen durften. Außerdem ist der Feind schwächer denn je.«
»Ich glaube, die Gilde ist gar nicht mehr der Feind«, sagte Hewe leise.
»Sie ist immer der Feind. Außerdem: besser so, als gar nichts unternehmen«, gab Egan zurück. Er zögerte. »Ich glaube ohnehin nicht, dass du es jetzt noch aufhalten könntest, selbst wenn du wolltest. Der Aufruhr ist zu groß. Vielleicht, wenn Jordan hier wäre ...« Seine Stimme verhallte.
»Du willst jetzt losschlagen?« fragte Paule. »Und alles, was wir in all den Jahren geplant haben, für einen Blutrausch aufs Spiel setzen?«
»Sieh den Tatsachen ins Auge!« feuerte Egan zurück. »Der Aufstand wird kommen - ob der Untergrund ihn unterstützt oder nicht. Wir sollten wenigstens dafür sorgen, dass die richtige Seite gewinnt.« Er hielt inne und blickte von einem teilnahmslosen Gesicht zum anderen. »Wenn die Gilde verjagt wird, und wir haben nichts dazu getan, dann können wir nicht darauf hoffen, anschließend irgendeine Form der Regierung einzusetzen, die diesen Namen verdient. Es wäre die völlige Anarchie. Wir müssen uns daran beteiligen.«
»Wir haben keine Zeit, unser Vorgehen abzusprechen«, warf Paule ein. »Ohne klare Strategie kommt dabei bestenfalls ein blutiges Gemetzel herum.«
»Gib das Zeichen«, drängte Egan. »Alles übrige klären wir später.«
»Nein. Noch nicht.«
Egan stöhnte genervt. »Du täuschst dich. Wir können es nicht verhindern, und viele von unseren Leuten haben bereits Pläne geschmiedet. Ich will ganz offen sein: Ich kann sie nicht zurückhalten.«
Für ein paar Augenblicke war das einzige Geräusch im Raum Ashlins hartnäckiger Husten.
»Und was ist mit dir?« fragte Paule ruhig.
»Ich bin dumm genug, ein einstimmiges Votum zu wollen«, erwiderte Egan wütend. Er drehte sich um und wollte gehen. »Ich halte dich auf dem laufenden«, fügte er über seine Schulter hinzu.
»Findest du, er hat recht?« fragte Paule, als die Tür ins Schloss fiel.
»Wahrscheinlich.«
»Bei den Göttern! Warum ist Jordan bloß nicht hier? Ich habe diesen Job niemals gewollt!«
»Ich gehe raus und spreche mit ein paar Leuten«, sagte Hewe. »Wir bleiben in Verbindung.« Er ging hinaus und überließ es Paule, die Berichte über die wachsende Unruhe in Empfang zu nehmen.
Mit Anbruch der Dämmerung erwies sich Egans Einschätzung als richtig. An mehreren Stellen in der Stadt waren Kämpfe ausgebrochen, und das Volk hatte mehrere Häuser von Gildenmitgliedern gestürmt, die Menschen drinnen umgebracht und das gesamte
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