Die träumende Welt 02 - Das Schattenreich
den unvermeidlichen Niedergang ihrer Freunde miterleben, ihren eigenen, den der Magie. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie gab sich dem Tumult hin, versank hilflos in ihrer vorbestimmten Rolle. Protest war sinnlos. Jeder Kreis eilte ihr zur Hilfe, nur um festzustellen, dass nicht reichte, was er ihr geben konnte - um schließlich noch mehr zu geben.
Gemma sah eine Reihe von Gesichtern - von Menschen und von Tieren. Einige erkannte sie wieder, andere dagegen waren ihr unbekannt. Sie sah Cai, dessen Kopf von dem Schwarm zorniger Bienen umsurrt wurde. Sie sah Mallory, die sich unablässig im Schlaf hin und her wälzte, während der Embryo in ihrem Leib auf geheime Reize reagierte. Kurz sah sie Kris, Jordan und Wray. Sie erblickte visionäre Bilder aus ihrer Vergangenheit: ein Mann mit goldenem Haar und glühenden Augen, der seine Hand mit der einer wunderschönen Frau mit violetten Augen verflochten hatte; einen uralten Einsiedler, mit weißem Haar und geflickten Kleidern, umgeben von Tieren aller Art. Sie sah Bilder, die sie niemals hätte erfinden können: weißgesichtige, schwarzäugige Männer und Frauen; heulende Wölfe unter schneebedeckten Tannen; Männer mit Kriegsbemalung, die unter einem blutroten Himmel tanzten. Sie erkannte Adria und sah, dass die alte Frau ihr etwas zu sagen versuchte - konnte sie aber wegen des Lärms in ihrem Kopf nicht verstehen. Für einen kurzen Augenblick sah sie Arden, dem völlige Verwirrung ins Gesicht geschrieben stand, und sehnte sich von ganzen Herzen nach ihm. Und so ging es immer weiter, eine endlose Folge von Charakteren, die nur eins gemeinsam hatten: sie waren Teil eines Flechtwerks, das jetzt skrupellos ausgebeutet wurde. Die Diener der Erde stürzten allesamt in ihren Untergang.
Gemma öffnete die Augen und sah Mendle an, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sein stählernes Gesicht war so ungerührt wie immer, doch er hüpfte fast vor Wonne. Er hat gesiegt, dachte Gemma verzweifelt und schloss die Augen wieder, um diesen grauenvollen Anblick fortzuschließen.
Und dann sah sie die Meyrkats.
Ihr auch? klagte sie und fragte sich, wie sie ohne ihre mentale Kommunikation überleben sollten.
Doch diesmal war es anders! Die Meyrkats waren keine flüchtige Erscheinung wie all die anderen, und sie schwanden nicht aus ihrem Blickfeld. Sie blieben in ihren Gedanken haften, ein Fels des gesunden Menschenverstandes im Treibsand des Wahns. Der Clan sang. Ihre eigenartigen Stimmen hallten unnatürlich wider, wurden immer stärker. Aus irgendeinem Grund waren sie immun gegen jenen Vorgang, der allen anderen ihre Kraft raubte. Wie war das möglich?
Die Meyrkats waren ganz nah bei ihr. Sie spürte ihre Nähe, und inmitten ihrer Verzweiflung wurde der erste Funken Hoffnung entfacht. Der Gesang nahm an Lautstärke zu - es war, als würde der Clan stärker, während die anderen immer schwächer wurden.
Vorsichtig öffnete Gemma die Augen. Mendle untersuchte sorgsam das Instrument in seiner Hand und drückte probeweise auf verschiedene Knöpfe.
In diesem Augenblick begriff Gemma, was passierte, und rief hinaus zu allen Kreisen. Während sie zuvor versucht hatte, ihre vom Unglück verfolgte Gabe zurückzuweisen, hieß sie sie nun willkommen, und der Zustrom fuhr durch ihren Körper wie ein Fluss aus Licht. Endlich verfügte sie über die Fähigkeit, ihre Kraft zu kontrollieren - sie konnte sie ausrichten, speichern, benutzen. Und alles nur, weil einer der Kreise der Magie ihr nicht verlorengegangen war.
Die Meyrkats befanden sich im Innern des Turmes.
Mendle begriff noch immer nicht, was geschah. Er untersuchte seine Schaltungen und war verwirrt, weil der Pegel der von ihm gespeicherten Energie nicht mehr so schnell stieg. Der Zufluss war ebenso stark wie zuvor, wenn nicht stärker, doch die Speicher des Turms füllten sich nur langsam. Hatte er irgendetwas übersehen? Nein, ausgeschlossen. Es gab mehr als genug Speicherkapazität. Was war es dann?
Seine Bestürzung steigerte sich noch, als die Pegel gespeicherter, magischer Energie tatsächlich zu fallen begannen, und das, obwohl der Zustrom von außen weiter anhielt. Unsicher geworden, sah er von seinen Instrumenten auf und starrte Gemma an. Sie stand reglos mit geschlossenen Augen da, hielt das Geländer fest umklammert. Und doch umgab sie eine Aura der Erregung - es war, als sprühte ihr rotes Haar Funken.
»Was tust du da, du Hexe!« brüllte Mendle und ging drohend auf sie zu.
Als Gemma die Augen öffnete, blieb
Weitere Kostenlose Bücher