Die Treue des Highlanders (German Edition)
bei der Polizei viele solcher Fälle erlebt. Es war immer das Gleiche – die Frauen meinten, wenn sie nicht darüber sprachen, dann wäre das Schreckliche niemals geschehen. Hier war Feingefühl angesagt, daher nahm sie Annas Hände und sagte leise: »Dieser Mann ... Sie haben keine Schuld daran, was geschehen ist. Die meisten Frauen denken, sie selbst haben einen Fehler gemacht, das ist aber nicht so. Sie waren ein hilfloses Opfer, aber jetzt liegt es in Ihrer Hand, den Verbrecher zu fassen und ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen.«
Es dauerte einige Minuten, bis Anna die Aussage von Ruths Worten bewusst wurde. Sie lachte. »Sie glauben, ich wäre entführt und geschändet worden? Hätte monatelang in der Gewalt eines Mannes verbracht? O nein!« Anna schüttelte heftig den Kopf. »Da sind Sie auf dem Holzweg. Sie können wieder gehen und dem Kommissar berichten, dass hier kein Verbrechen vorliegt.«
»Aber Miss Wheeler, wie ist es dann zu erklären, dass sie zeitgleich mit einem Mann verschwunden sind, von dem man ebenfalls keine Spur gefunden hat? Und nun weigern Sie sich, über die Ereignisse zu sprechen. Glauben Sie mir, Sie brauchen Hilfe.« Ruth Jefferson holte eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und legte sie auf den Nachttisch. »Sie können mich jederzeit anrufen. Tag und Nacht.«
»Das wird nicht nötig sein. Danke«, sagte Anna kühl, und es blieb Ruth nichts anderes übrig, als zu gehen. Der Fall Anna Wheeler schien schlimmer zu sein, als sie vermutet hatte. Arme Frau! Was musste ihr Furchtbares widerfahren sein, das sie so konsequent leugnete?
Die nächsten Tage verbrachte Anna wie in Trance. Bruce war in nur einem Tag nach London und wieder zurück nach Inverness geflogen, und er hatte zwei Koffer mit ihrer Kleidung und ihrer Handtasche mitgebracht. Es war noch alles da – ihre Ausweise und die Kreditkarten. Als Anna ihr Handy in den Händen hielt, wusste sie zuerst nicht, was sie damit anfangen sollte.
»Du könntest deine Eltern anrufen«, sagte Bruce leise. »Die Polizei hat sie zwar informiert, aber sie würden sich freuen, wenn du dich bei ihnen selbst meldest.«
»Meine Eltern?« Anna hatte keinen Moment daran gedacht, dass ja auch sie von ihrem Verschwinden Kenntnis erhalten hatten. Bruce erzählte ihr, er wäre damals selbst zu ihnen gefahren und hätte es ihnen erzählt. Außerdem hatten sie als nächste Angehörige die Vermisstenanzeige unterschreiben müssen.
»Sie lieben dich sehr, Anna.«
»Ja, nachdem sie glauben mussten, mich für immer verloren zu haben«, entgegnete Anna bitter. Deutlich stand ihr der letzte Streit vor Augen, als ihr Vater sagte, sie wäre für die Familie gestorben, wenn sie nach London ziehen und als Schauspielerin arbeiten würde. Trotzdem durchzog Anna beim Gedanken an ihre Eltern ein warmes Gefühl. Sie dachte an den Brief, den sie vor ein paar Tagen an ihre Mutter geschrieben hatte. Vor ein paar Tagen? Es war vor Hunderten von Jahren gewesen!
»Du hast dich verändert«, stellte Bruce fest. »Irgendwie bist du härter geworden. Was ist geschehen? Was hast du erlebt, Anna?«
Ihr Gesicht verschloss sich, und Bruce wandte sich enttäuscht ab. Äußerlich hatte sie sich bis auf die längeren Haare, die wieder im braunen Naturfarbton glänzten, nicht verändert, dennoch erschien sie Bruce wie eine andere Frau. Im Moment konnte er nicht darauf hoffen, wieder eine Beziehung zu Anna zu haben, die über Freundschaft hinausging, denn sie wahrte eine kühle Distanz zu ihm. Trotzdem würde er an ihrer Seite bleiben. Allein schon aus persönlichem Interesse wollte Bruce unter allen Umständen herausfinden, was in den letzten Monaten geschehen war.
Da Anna körperlich gesund war, gab es keinen Grund, länger im Krankenhaus zu bleiben. Sie zog ins
Caledonien Hotel
, allerdings in ein Einzelzimmer, und drängte Bruce, nach London zurückzukehren. »Ich weiß doch, wie ungern du deine Arbeit allein lässt. Ohne dich bricht der ganze Laden zusammen«, versuchte sie zu scherzen.
»Im Moment drehe ich nur einen kleinen Dokumentarfilm«, winkte Bruce ab. »Warum kommst du nicht mit nach London? Was hält dich noch in Schottland? Ist es dieser andere Mann?«
Ja, obwohl er tot ist und ich ihn niemals wieder sehen werde, dachte Anna. Hier fühlte sie sich Duncan nahe, auch wenn sie wusste, sie musste früher oder später wieder in ihr altes Leben zurückkehren. Von irgendetwas musste sie schließlich leben. Eine erneute Zeitreise zurück zu Duncan war sinnlos, denn er war tot.
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