Die Trinity-Anomalie (German Edition)
meinem Traum hat Mama Anne gesagt: ›Es gibt nur einen Gott. Alles andere ist nur eine Metapher.‹ Wenn man nun all die Metaphern weglässt, was ist dann das eine Gebot, das alle anständigen Religionen gemeinsam haben?«
»Behandle andere so, wie du behandelt werden willst.«
»Genau, in jeder Religion gibt es eine Variante dieses Spruchs, aber warum halten sich so wenige Leute daran? Weil der ganze andere Mist sie blendet, all die Metaphern. Juden und Muslime, Christen, Hindus und Voodoo-Anhänger … alle wollen nur die eine grundlegende Wahrheit leben, aber sie sind verwirrt, weil sie all die Metaphern wörtlich nehmen. Sie alle haben ihre Checklisten: Du sollst nicht am Sabbat arbeiten … du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen … du sollst kein Schweinefleisch essen … du sollst keinen Alkohol trinken … du sollst nicht töten … und so weiter. Aber dabei behandeln sie sich gegenseitig wie den letzten Dreck. Sie nehmen die Metaphern wörtlich und meinen, sich um die wirklich schwierigen Aufgaben drücken zu können. Sieh dich doch mal um, verdammt!« Trinity zeigte auf die Straße. »Ich meine nicht nur das hier. Ich meine den Zustand, in dem sich die ganze Welt befindet. Die Leute halten sich an die einfachen Regeln, rennen herum und erzählen, wie fromm sie sind und wie sehr sie ihre Mitmenschen lieben … aber das ist nur Gerede. Liebe ist ein Wort der Tat. Sie bringt Verantwortung mit sich.«
Liebe ist ein Wort der Tat.
Die Bedeutung dieser Aussage traf Daniel mit fast körperlicher Wucht. Darauf beruhte die Botschaft Jesu.
Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.
Das war auch ein katholisches Gebet zum Fronleichnamsfest … das in zwei Tagen stattfand.
Daniel stand auf und betrachtete die alte Suppenküche. »Ich habe die letzten vierzehn Jahre damit zugebracht, nach einem Wunder zu suchen«, sagte er, »nach einem Beweis für die Existenz Gottes. Aber weißt du, ich glaube, ich habe eigentlich nur dieses Gefühl gesucht, dass ich als Kind hatte … als du noch Gottes Bote warst und ich der Gefährte seines Boten. Das Gefühl, dass ich in einem Zustand der Gnade lebte.«
»Dieses Gefühl kam daher, dass du geglaubt hast, wir würden Menschen helfen«, sagte sein Onkel. »Du hast die letzten vierzehn Jahre an den falschen Orten gesucht, Sohn. Es geht nicht um Wunder oder Beweise oder einen direkten Draht zu Gott. Du willst Gott nah sein? Dann strecke die Hand aus und hilf deinem Nächsten. Glaube ohne Werke ist tot … und vielleicht kommt es letztlich auch nur auf die Werke, die Taten an.« Trinity stand auf und legte Daniel die Hand auf die Schulter. »Das ist Gottes
einziges
Gebot.«
TEIL 3
74
Daniel tänzelte um den Sandsack und landete mit der Linken ein paar Jabs, gefolgt von einigen rechten Haken und linken Uppercuts. Die Ketten des Sandsacks rasselten, und Daniel lief der Schweiß über die Stirn.
Der Saint Sebastian’s Boys Athletic Club hatte sich überhaupt nicht verändert. Als Daniel kurz nach Sonnenaufgang an der Tür geklingelt hatte, hatte Pater Henri ihn zur Begrüßung umarmt und ihm den Kopf getätschelt. Der alte Priester hatte für Daniel und Trinity ohne viele Fragen in den hinteren Räumen zwei Feldbetten aufgestellt und Daniel einen Schlüssel für die Vordertür gegeben.
Daniel änderte seine Fußstellung und bearbeitete den Sandsack mit einer anderen Schlagkombination, die ihm gerade wieder eingefallen war, und war erstaunt, wie in seinem alten Trainingsraum die Jahre dahinschmolzen und die Erinnerung zurückkam.
Was für Trinity seine strammen Spaziergänge waren, war für Daniel das Boxen.
Und nicht nur die Boxübungen waren ihm wieder präsent. Er erinnerte sich an sein achtzehnjähriges Ich und an seine Gefühle von damals. An den zukünftigen Golden-Gloves-Champion im Weltergewicht. Er dachte zurück an das Leben mit den Patres und wie erleichtert er gewesen war, dass die Priester dieser Gemeinde offenbar keine Schwäche für heranwachsende Jungen hatten. Er war ein guter Schüler und dank seiner Kindheit in der Obhut des Obergauners Trinity auch mit allen Wassern gewaschen. Er hatte genug Selbstbewusstsein für eine Beziehung mit einer schönen, intelligenten Hochschulabsolventin und ging mit ihr und ihren Freunden in Lokalen trinken, die eigentlich für Erwachsene reserviert waren.
Doch nach seinem folgenden Geburtstag sollte er das Priesterseminar besuchen.
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