Die Trinity-Anomalie (German Edition)
Sicher, es war das erste Mal, dass er eine Frau geküsst hatte, seit er vierzehn Jahre zuvor zum letzten Mal dieselbe Frau geküsst hatte.
Vierzehn Jahre. Mein Gott, vierzehn Jahre. Wie konnten die nur so schnell vergehen?
Sicher fehlte ihm die Erfahrung, um so einen Kuss richtig deuten zu können, aber trotzdem war er ein Mann, und es hatte da einen kurzen Moment gegeben – als sie sich entspannte und bevor sie ihn wegstieß –, da hatte sie seinen Kuss erwidert. In dem Augenblick war Julias Leidenschaft echt gewesen.
Und dieser Augenblick war ihm länger vorgekommen als die letzten vierzehn Jahre seines Lebens. Länger und vielleicht auch bedeutsamer.
Aber dann hatte sie ihn weggeschoben und gesagt:
Zwischen uns ist schon lange Schluss. Und daran wird sich auch nichts ändern,selbst wenn du dein Priesteramt niederlegst. Mach dir da bloß keine Illusionen.
Das war eindeutig. Ach, verdammt, ihm war, als hätte er einen Stein verschluckt.
Die Sonne stand inzwischen sehr niedrig. Es war Zeit für den Abstieg. Da die Highways verstopft waren, hatte er eine lange Fahrt durch Nebenstraßen vor sich.
Daniel stand auf und lief zwischen den Regenwassertümpeln hindurch, die aussahen wie Mondkrater. Als er klein war, hatte sein Onkel ihm erzählt, Gott habe diese Mulden mit seinen Fingerspitzen in den Fels gedrückt. Er hatte gesagt, der Stone Mountain sei einst einer der Hauptversammlungsorte des Ku-Klux-Klans gewesen, und immer wenn Gott oben auf dem Felsen ein Klan-Mitglied sah, stieß sein Finger, von einem Blitz begleitet, herab und zermalmte den Klansman wie ein Insekt.
Die Besteigung des Stone Mountain war noch so eins von Tims und Dannys Atlanta-Ritualen. Manchmal taten sie es vor dem Essen im Varsity, manchmal danach, aber beides gehörte unbedingt zu einem Besuch in Atlanta dazu.
Die Sonne stieß fast an den Horizont. Es war wirklich Zeit hinabzusteigen, stattdessen ging er aber zum Nordrand des Felsens, setzte sich hin und schlug die Beine über Kreuz.
Einmal – er musste sieben oder acht gewesen, so genau wusste er es nicht mehr –, da hatten sie oben auf dem Stone Mountain nach Einbruch der Dunkelheit wegen eines gewaltigen Gewitters festgesessen. Die Drahtseilbahn hatte wegen des Unwetters den Betrieb eingestellt und die Touristen klommen wie nasse Katzen eilig den rutschigen Wanderweg hinunter. Die Kinder jammerten, die Frauen kreischten und die Männer schrien, und ringsum toste der Donner und Blitze erstrahlten direkt über ihren Köpfen.
Zwischen den Blitzen war es so dunkel, dass man keine zwei Meter weit sehen konnte. Heißer Sommerregen schüttete auf sie herab. Einmal schlug ein Blitz so nah ein, dass die Erde unter ihren Füßen bebte. Es klingelte in Dannys Ohren und er konnte eine ganze Minute lang nichts sehen. Hilflos wimmernd umklammerteer das Bein seines Onkels. Er war sich sicher, dass dies das Ende war. Die anderen Touristen hatten den Fuß des Hügels schon erreicht und waren außer Sichtweite. Aber Danny war starr vor Angst.
Tim Trinity ging in die Knie und packte den Jungen bei den Schultern, sah ihm in die Augen und lächelte ihn unbekümmert an.
»Bei mir bist du sicher, Junge. Bei mir bist du immer sicher.«
Während der Junge sich weiter an sein Bein klammerte, lief Trinity ganz gemächlich zur steilen Nordwand des Felsens, direkt bis an den Rand, reckte sich und breitete die Arme aus wie Moses, der das Rote Meer teilt. Seine offene Windjacke flatterte im Wind wie nasse Flügel.
Trinitys Stimme donnerte gegen den Sturm an: »Im Namen
Jesu
gebiete und verkünde ich: Kein Unheil soll diesem Kind Gottes in dieser Nacht widerfahren! Alle Engel des Himmels werden seine Schritte leiten und wir werden diesen Berg unversehrt hinuntersteigen, um uns im Varsity an Chili Dogs gütlich zu tun! So soll es sein und so wird es auch sein!« Er ließ die Hände sinken und zwinkerte dem Jungen zu. »So, das wäre erledigt. Gehen wir.«
Durch strömenden Regen wanderten sie den Berg hinab, Hand in Hand und unter dem Geleit der Engel. Und zu seinem eigenen Erstaunen verspürte Daniel keine Angst mehr.
Dann fuhren sie total durchnässt zum Varsity und aßen im Wohnmobil Chili Dogs und Apfeltaschen. Und lachten über das Unwetter.
In jener Nacht war Tim Trinity einfach ein wunderbarer Onkel gewesen und Danny der glücklichste Junge in Atlanta.
Daniel stand auf und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Er ging bis an den Rand der steilen Felswand, wo Trinity den Engeln
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