Die Trolle
sie bei ihm stand. Ich müsste nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren, schoss es ihm durch den Kopf.
»Also, du wolltest mich sprechen?«, sagte er dann, plötzlich wütend, denn die Erinnerung daran, dass Viçinia für immer unerreichbar für ihn sein sollte, kehrte mit Wucht zurück. In den letzten Tagen hatte er diesen Umstand fast ausblenden können, wenn er unterwegs gewesen war, und einer der Gründe, warum er so häufig auf Erkundung ritt, war, wie er nun erstaunt erkannte, dass er Viçinia aus dem Weg gehen konnte. Es ist fast wie früher, wenn wir miteinander geredet haben, dachte Sten. Umso schlimmer der Gedanke, sie zu verlieren!
»Ja, das wollte ich«, entgegnete sie sanft, »wegen Ionnas Plänen für meine Zukunft. Wenn es denn noch eine Zukunft gibt.«
»Ja, ich weiß«, stieß Sten zornig hervor. »Du wirst Laszlár Szilas heiraten, weil es für uns alle das Beste ist. Ist es nicht so? Ich wünsche dir jedenfalls alles Gute!«
Gerade wollte er sich abwenden und in die Dämmerung davonstapfen, als er sie leise sagen hörte: »Aber das werde ich nicht. Ich werde nicht heiraten.«
Verwirrt blieb Sten stehen. »Und was ist mit Ionnas Absichten, ein neues Bündnis zu schmieden?«, fragte er.
»Sie hat es aufgegeben. Deshalb wollte sie mich vorhin sprechen. Um mir zu sagen, dass ich frei bin. Ob dieser Krieg unser Ende bedeutet oder nicht, wird letztlich nicht von einer Bündnisheirat abhängen, meinte sie. Und …«
Sten hörte ihre Worte zwar, aber er konnte noch nicht fassen, was sie ihm sagte. Sie ist frei?, ging es ihm durch den Kopf. Dann endlich löste er sich aus seiner Starre und griff nach ihrer Hand.
»Viçinia, ich … ich bin …«
»Psst«, sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Ich möchte, dass du eines weißt: Auch wenn Ionna ihre Meinung nicht geändert hätte, wäre ich heute zu dir gekommen.«
Alle Farbe schien aus der Welt zu weichen, und plötzlich drangen die Rufe und Gesänge des Lagers wie aus weiter Ferne an Stens Ohr. Ihre Nähe und ihr Duft umfingen den jungen Krieger, ließen ihn seine Schmerzen und alle Fragen einfach vergessen, und er schlang die Arme um sie und ergab sich den Gefühlen. Seine Lippen fanden die ihren, sein ganzes Sein schien sich auf ihre Berührung einzustimmen, sein Körper presste sich gegen den ihren, während seine Zunge ihre Lippen öffnete. Berauscht von ihr, grub Sten die Hände in ihr Haar und genoss das Gefühl ihres Körpers unter seinen Fingern. Niemals mehr wollte er sie loslassen, niemals den Kuss beenden. Doch ein Hüsteln vom Zelteingang her ließ die beiden herumfahren.
»Lebt ihr hier etwa in Sünde zusammen?«, fragte Flores grinsend und trat in das Zelt hinein.
Verblüfft fragte Sten: »Was tust du hier?«
»Welch eine nette Begrüßung, Bruderherz, ich freue mich auch, dich zu sehen. Und dich natürlich auch, Viçinia«, erwiderte Stens Schwester lachend. Beschämt sah Sten erst sie und dann Viçinia an, die lächelte: »Schön, dass du hier bist. Aber falls du es nicht weißt, es wird bald eine Schlacht geben.«
»Ja, ja«, winkte Flores ab. »Ich weiß. Ich werde übrigens eine Rüstung brauchen.«
»Du willst mit uns kämpfen? Du hast deine Meinung geändert?«, entfuhr es Sten, und er trat vor und nahm seine Schwester in den Arm.
»Schon gut«, protestierte diese. »Werd nicht gleich rührselig, nur weil wir morgen vermutlich alle tot sind!«
»Warum hast du deine Meinung geändert?«, fragte Sten, dem es beinahe die Sprache verschlagen hätte.
»Ihr habt die ganze Zeit auf mich eingeredet, ihr alle. Da muss man ja genauso weich im Kopf werden, wie ihr es seid«, erklärte Flores grinsend, nur um ernst hinzuzufügen: »Nati soll nicht umsonst gestorben sein.«
»Danke, Flores«, sagte Sten leise, aber seine Schwester wehrte lachend ab.
»Dank nicht mir. So wie ich das sehe, kämpfen heute Nacht tausende von Kriegern gegeneinander, ganz zu schweigen von deinen großen hässlichen Freunden!«
»Natürlich. Aber …«, warf Sten ein, wurde jedoch von Costin unterbrochen, der pfeifend in das Zelt kam und dann abrupt stehen blieb, als er die kleine Versammlung sah.
Mit einem Blick auf Sten und Viçinia, die Tränen in den Augen hatte, erkundigte er sich rasch: »Alles in Ordnung?«
»Klar, Freund Costin«, antwortete Flores lachend und legte dem kleinen Wlachaken einen Arm um die Schulter. »Lass uns gehen, draußen gibt es Gesang und Tanz!«
»Aber ich komme gerade …«, begann Costin verwirrt.
Flores
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