Die Trüffelgöttinnen (German Edition)
wissen, ob dieser Irre aus der Talkshow nicht wieder irgendeinen Plan gegen ihn ausheckte und vielleicht unvermittelt vor oder schlimmer noch: hinter ihm stand. Unwillkürlich sträubten sich seine Nackenhaare, aber als er sich rasch umdrehte, war zu seiner großen Erleichterung niemand zu sehen.
Er schloss den Wagen ab, tätschelte Jacco noch einmal liebevoll die Flanke und trat aus der Garage. Das Tor schloss sich auf ein Signal seiner Fernbedienung, und Harry, der in Gedanken bereits im Weinkeller stand, steuerte aufatmend auf die Haustür zu.
Die Kühle des voll klimatisierten Hauses umfing ihn wie klare Bergluft. Mit einem erleichterten Aufatmen warf er seine Jacke über einen der beiden Stühle. Der Druck des Studiostresses fiel schlagartig von ihm ab, als er in der im Halbdunkel liegenden Diele die Tür zum Weinkeller aufschloss.
Er hatte den Raum von einem darauf spezialisierten Architekten zu einem Gewölbekeller umbauen lassen, mit sanft geschwungen Bogen aus dunklen, verwittert wirkenden Steinen, und jedes Mal, wenn Harry die täuschend echt wie über Jahrhunderte von vielen Füßen ausgetreten wirkende Treppe hinunterging, umfing ihn die der hektischen, lärmenden Welt da oben so völlig entrückte fast schon sakral anmutende Stille eines uralten Weingutkellers.
Der Architekt hatte hervorragende Arbeit geleistet, er hatte sogar künstliche Spinnweben und spezielle Lichtquellen eingesetzt, um die Illusion diffusen Dämmerlichts zu erzeugen, wie es in echten alten Weinkellern durch die ihrer Unerreichbarkeit wegen über die Jahrzehnte nahezu blind gewordenen schmalen Lichtnischen hereinfallen mochte.
In den hohen Regalen lagerten Hunderte von Flaschen, manche von ihnen von einer feinen Staubschicht bedeckt, was den Eindruck, einen von der Zeit vergessenen Ort betreten zu haben, noch verstärkte.
Harry strich mit den Fingerspitzen zärtlich wie ein Liebhaber über den Körper seiner Geliebten über das von Salvador Dalì entworfene Etikett des Mouton Rothschild Jahrgang 1958. Daneben lagerten mehrere Flaschen der Jahrgänge 1946, 1970 und 1973, jedes Etikett von einem berühmten Künstler entworfen: Philippe Jullian, Pablo Picasso und Marc Chagall hatten ihre Kreativität um diesen Wein spielen lassen und schließlich seinen Charakter in Farben, Formen und Bilder gefasst, die für immer mit ihm verbunden sein würden.
Ehrfürchtig trat Harry vor ein etwas abseitsstehendes Regal, auf dem sich nur fünf Flaschen befanden, und vor dem er jedes Mal den Impuls spürte, sich zu verneigen wie vor einem Altar. Mouton Rothschild 1888 stand auf einem kleinen Messingschildchen, das er extra für diesen erlesenen Wein hatte gravieren lassen, denn eines war sicher: Wer auch immer nach Harrys Ableben den Fuß in diesen Weinkeller setzen würde, er würde alle fünf Flaschen genau so vorfinden, wie sie jetzt hier lagen. Ursprünglich waren es sechs gewesen, nur ein einziges Mal hatte er es gewagt, von diesem herrlichen Wein zu kosten, aber es wäre ihm wie ein Verbrechen vorgekommen, eine weitere dieser über ein Jahrhundert alten Flaschen zu entweihen, indem er sie öffnete und ihren edlen Geist und die Geschichten, die er zu erzählen hatte, in diese von Autoabgasen, widerlichen Worten und Wohlstandsmüll stinkende Kloake namens Welt zu entlassen.
Denn was man nur schwer erahnen konnte: Im Grunde seiner Seele war das Ekel Harry Shinder ein sensibler, extrem verletzlicher und feinsinniger Mensch, der irgendwann einmal beschlossen hatte, niemandem mehr einen Blick in sein Inneres zu gewähren, und stattdessen seine Empfindsamkeit mit einem groben Tuch aus Flüchen, fiesen Sprüchen und abschreckenden Handlungen zu bedecken. Das war ihm so gut gelungen, dass er inzwischen sogar selbst glaubte, seine Maske sei sein wahres Ich, und dass man gut daran täte, ihm aus dem Weg zu gehen.
Da er sich selbst nicht aus dem Weg gehen konnte, hatte er nach einer Möglichkeit gesucht, sich abzulenken, und war in einem kurzen Europa-Urlaub während einer Verkostung in den von bunt gefleckten Blättern leuchtenden Weinbergen Frankreichs einer Leidenschaft verfallen, die ihn von da an in jeder freien Minute beschäftigte: Harry Shinder hatte sich vom unterscheidungslos alles von Rot bis Weiß und von billig bis teuer gleichermaßen gleichgültig konsumierenden Weinbanausen zum großen Liebhaber und hervorragenden Kenner von Rotweinen entwickelt. Früher hatte er einen edlen Wein genauso achtlos in sich hineingeschüttet wie einen
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