Die Trüffelgöttinnen (German Edition)
aristokratisch zurückhaltenden Chateau L’Eglise Clinet konnte Harry den Schutzmantel, den er um sich gelegt hatte, fallen lassen und ohne Angst vor dem Spott der Derben das Feine aus seiner Seele aufsteigen und sich in einfühlsam rezitierten Versen Shakespeares ergießen lassen.
Hätte man denen da draußen erzählt, dass der gefürchtete Studioboss Harry Shinder Romeo und Julia in einer Weise vortragend die Regalreihen seines Weinkellers entlangschritt, die sogar Shakespeare vor Ergriffenheit die Tränen in die Augen getrieben hätte – sie hätten es nicht geglaubt. Der einzige Mensch, der Harrys wahres Wesen erkannt hatte, war Gladys Butcher, die Frau, die Tag für Tag das GMY!-Studio auf Hochglanz brachte.
Aber es gab Winkel in seiner Seele, die Harry auch im Schutze der gnädigen Dunkelheit lieber nicht ansehen wollte, und deshalb hatte das Regal mit dem Jahrgang 1888 eine ganz besondere Bedeutung für ihn. Ihm war, als trage der Wein neben all den Geschichten seiner Zeit bereits auch das schwere Wissen in sich, dass kurz nach seiner Ernte die französischen Weinberge von einem Schimmelpilz dahingerafft werden würden. Schwermütig und dunkel schien ihm der Flascheninhalt, und Harry hätte es auch deshalb niemals gewagt, eine weitere dieser kostbaren Flaschen zu öffnen. Ihm war, als sei die Unversehrtheit der Flaschen die Garantie dafür, dass seine eigene Schwermütigkeit und das Dunkle seiner Seele ebenso im Verborgenen blieben wie die des Weines.
Und doch hätte er zu gerne noch ein einziges Mal von diesem außergewöhnlichen Tropfen gekostet. So war schließlich die Vision von seiner bevorzugten Todesart entstanden: in einem großen Eichenfass mit Chateau Mouton Rothschild Jahrgang 1888 zu ertrinken.
Harry wandte sich wieder dem Regal mit den verschiedenen Rothschild-Jahrgängen zu und beschloss, sich zur Entspannung nach diesem stressigen Tag ein Fläschchen des Jahrgangs 1973 zu gönnen.
Er zog die Flasche mit dem Chagall-Etikett vorsichtig aus dem Regal und trug sie behutsam wie ein Baby die Treppe hinauf bis in die Küche. Er öffnete sie vorsichtig mit dem antiken Korkenzieher, den er vor Jahren in einem Auktionskatalog von Sotheby’s entdeckt hatte. Laut Auktionsbeschreibung handelte es sich um den Korkenzieher, mit dem Baron de Rothschilds vor über 100 Jahren höchstpersönlich die Korken aus den für seine Gäste kredenzten Weinflaschen gezogen hatte. Es hatte Harry ein halbes Vermögen gekostet, aus dieser Auktion als Sieger hervorzugehen, weil sich ein ebenfalls telefonisch mitsteigernder Weinliebhaber aus Frankreich ein heißes Bietgefecht mit ihm lieferte, bis er schließlich vor Harrys Unerbittlichkeit kapitulierte. Harry traten jedes Mal die Tränen in die Augen, wenn er das kostbare Stück aus dem extra dafür angefertigten Eichenholzkästchen nahm und es ehrfurchtsvoll in der Hand wog, bevor er es wagte, in einem wie magisch scheinenden Moment sachte die Spitze in den Korken zu stechen. Auch dieses Mal konnte er die Rührung nicht unterdrücken, als er den Korken mit einem sanften Plopp aus dem Flaschenhals zog.
Er stellte die Flasche auf ein Tablett. Der Wein musste einige Minuten stehen, er musste atmen, das Geheimnis seiner Seele musste Zeit haben, sich zu entfalten wie die Flügel eines prächtigen Schmetterlings, vorzeitig getrunken würde er den Ungeduldigen damit bestrafen, dass er nur ein unvollkommenes Bild seines Charakters zeigte.
Harry konnte sich nicht entscheiden, ob er die riesigen ballonförmigen Gläser aus dem Wohnzimmerschrank nehmen sollte oder lieber die auf hohen Stielen schlank und stolz aufragenden, dem Wein aber ebenso viel Raum für die Entfaltung seines Bouquets gebenden Gläser, die sich nach oben hin ganz dezent und elegant verengten. Beides hatte seinen Reiz, und schließlich entschied er sich für die hohen, schlanken Gläser, die in dem Schrank über der Spüle standen.
Wie sich dann zeigte, wären dem Mouton Rothschild Jahrgang 1973 und Harry wohl die Ballongläser besser bekommen, jedenfalls gingen die Flasche und mehrere Gläser zu Bruch, als er die Schranktür öffnete und direkt in die Knopfaugen eines der wie paralysiert in dem dunklen Schrank verharrenden Meerschweinchen blickte.
Harry hasste diese Tiere, er hatte sogar eine richtige Meerschweinchenphobie, seit er als Fünfjähriger von seinem Meerschweinchen Gonzo beim ungestümen unbekleideten Herumtollen auf dem heimischen Wohnzimmerteppich herzhaft in den Penis gebissen worden war.
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