Die Tuchhändlerin: Liebesroman aus der Zeit der Weberaufstände (German Edition)
gewölbten Wangen, ihre Jochbeine, Nase, die grauen Augen, die dunklen Brauen und ihr ausgefranstes dunkelbraunes, über den Augen kurz geschnittenes Haar. Ihr Spiegelbild war ein geduldiges Modell.
Erst als sie mit der Wiedergabe ihres Äußeren zufrieden war, legte sie das Zeichenzeug beiseite. Sie hatte nicht bemerkt, dass Josephine mit Schreiben und Ludovike mit Sticken aufgehört hatten und all ihre Sinne auf Luisa auf dem Fußboden gerichtet hatten: Ludovike blickte anerkennend, Josephine eher mit Spott im Blick. „Sieht gut aus“, meinte die eine, „Wie selbstverliebt!“ die andere. Luisa war das egal. Sie hatte sich während des Zeichnens beruhigt, das funktionierte immer.
Während sich Josephine hinter dem Paravent zur Nachtruhe umkleidete, kauerte sich Ludovike hinter Luisa und knetete deren Nacken, der nach der langen stillen Weile mit gesenktem Kopf wie eingerostet war. „Bald wirst du wieder rausgehen können zum Zeichnen. Freust du dich schon?“
„Sehr.“
Die Nähe zur ältesten ihrer vier jüngeren Schwestern war ihr Trost an diesem verwirrenden Tag.
Die folgenden Tage und milden Temperaturen wollte Luisa für ausgedehnte Spaziergänge nutzen. Sie hatte ihre Zeichenmappe dabei, auch etwas zu lesen. Sie schlug den Weg zum Friedhof ein, wo sie sich auf die Bank am Familiengrab setzen wollte, um zu lesen, um zu zeichnen oder beides oder nichts – nur den Vögeln zuhören und die Sonne genießen.
Schulkinder hörte sie im Chor das Alphabet rezitieren wie ein großes Gedicht, während sie am Schulgebäude vorüberspazierte. Die Temperaturen waren auf jenes erträgliche Maß gestiegen, welches dem Oberschulmeister Wenzel erlaubte, die kleine Dorfschule wieder zu öffnen. Der Oberschullehrer pflegte die Kinder des Ortes gestaffelt zu unterrichten: Da gab es die Vormittagsschule, die um sieben Uhr begann und zu der all jene Kinder geladen waren, die über Bücher, Schreibhefte und den unbedingten Anspruch, überhaupt lesen und schreiben zu lernen, verfügten. Es war Christiana Hallers und aller Kaufherrengemahlinnen größtes Ansinnen, ihre Buben vom Oberschulmeister auf den Besuch des humanistischen Gymnasiums vorbereiten zu lassen. Ludwig Treuentzien hatte keine Buben, deshalb war Luisa auf die Expedientenschule gegangen.
Dann gab es die Mittagsschule, die vom Unterschulmeister Radisch von zwölf bis zwei Uhr für jene Kinder abgehalten wurde, die in den Webereien arbeiteten und die Mittagspause zum Lernen kirchlicher Lieder und Stücken aus dem Alten und Neuen Testament nutzen sollten. Und während der Oberschulmeister und seine Lehrerschaft dem genügsamen Feierabend entgegensahen, gingen all jene Kinder, welche weder Zeit noch Geld oder auch nur ein Eckchen Schiefer für die Schule übrig hatten, in eine der vielen Winkelschulen, die in privaten Räumen von Laienlehrern mit zweifelhaftem Wissen geführt wurden, meist Weber mit einer eigenen großen Kinderschar, denen es nichts ausmachte, einem weiteren Dutzend fremder Kinder die grundlegende Bildung nahezubringen. Aber im Allgemeinen oblag die Schulpflicht der Entscheidungsgewalt der Weberkinder und der Frage, ob sie überhaupt lesen und schreiben, rechnen und Hochdeutsch lernen wollten.
Und hier, an der Ecke von Schulgebäude und der Mandaubrücke zum Hutberg hinauf, nutzte Fleck die Unachtsamkeit seiner Herrin aus, ruckte einmal kräftig am Riemen und war verschwunden. Ganz schnell ging das. Luisa stand verdattert an der Hausecke und wartete, dass der Ausreißer zurückkehrte.
„Du solltest ihn einfangen, bevor ihm etwas Schlimmes passiert“, hörte Luisa eine Kinderstimme, die zu dieser Zeit, wenn schon nicht in der Vormittagsschule bei Oberschulmeister Wenzel, so doch in der Mittagsschule bei Unterschulmeister Radisch, hätte buchstabieren üben sollen.
„Das kann ich nicht.“ Luisa wandte sich um und schaute in das blasse Gesicht des Mädchens, das sie vor Monaten als Sophie Weber kennengelernt hatte. „Er ist weg und zu schnell für mich. Ich warte.“
Das Mädchen blickte in dieselbe Richtung wie Luisa und urteilte fachmännisch: „Er ist bestimmt auf den Hutberg gerannt. Dort oben gibt es eine Menge Rebhühner, Wachteln und so ... Wie lange bleibt Fleck weg?“
„Manchmal lange, manchmal nicht so lange. – Gehen deine Schwestern eigentlich in die Schule?“
„Machst du dir keine Sorgen um deinen Hund?“
Luisa verneinte. „Und deine Brüder? Waren die auf der Schule? Dein Bruder Balthasar ist, wie mir scheint, noch
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