Die Tuchhändlerin: Liebesroman aus der Zeit der Weberaufstände (German Edition)
und Kaufleuten zu hören. Aber Luisa Treuentzien hatte Wort gehalten.
Sie hatte mit Obermeister Türpe gesprochen. Sie hatte auf mysteriöse Art und Weise Albert Wangers Schulden gelöscht und damit Neid unter den Webern gesät. Die Witwe Wanger konnte dadurch ihre Zunftrente beziehen. Und Luisa Treuentzien hatte noch mehr getan; Luisa Treuentzien hatte den Abbau des Zampelstuhls des Webers Wanger und den Aufbau eines zweiten Leinewebstuhls persönlich beaufsichtigt. Niemand wusste, ob es eine milde Geste ihres Vaters oder des Verlegers Liebig gewesen war, einen zweiten, nagelneuen Webstuhl ins Haus der Witwe Wanger stellen zu lassen und obendrein die Stuhlsteuer, die der zweite Webstuhl einforderte, zu erlassen. Niemand wusste, zu wessen Lasten diese Großzügigkeit ging. Und ein jeder wartete auf die Auflage, die der Witwe, ihren Kindern oder dem Zunftvorstand wegen des zweiten Webstuhls und der fälligen Stuhlsteuer drohten, aber jedwede Forderungen blieben aus.
Caspars Mutter ließ alle, ob sie wollte oder nicht, an ihren Grübeleien über das Glück der Witwe Wanger teilhaben. Obwohl seine Mutter und die Wangern seit Jahren überkreuz waren, gönnte seine Mutter der anderen die Gunst, die Luisa Treuentzien gezeigt hatte, weil sie ja zu ihnen auch so gut war. Gut. War sie. Gut. Caspar konnte es nicht mehr hören!
Walpurgisnacht fiel auf einen Freitag und sein Vater musste sein Versprechen seiner Mutter gegenüber einlösen. Caspar hatte es befürchtet. Er musste mit zum großen Hexenbrennen zum Schloss der Kyaws und Kanitzers. Die Landadeligen waren bekannt für ihre Feierlaune. Denen war auch egal, mit wem sie feierten, Hauptsache war, dass viele Leute, viel Essen und laute Musik auf engem Raum miteinander auskamen.
Während seine Eltern den Bauernwalzer tanzten, versuchte Caspar sich am Feuer aufzuwärmen. Er beobachtete die Verleger, Kaufleute und Exporteure, die herumstolzierten wie Gockel in schreienden Farben und unmöglichen Mustern, die gerade große Mode waren. Der Treuentzien wartete mit finkengrünen Karos auf zinnoberroten Streifen auf. Nicht zu fassen!
Und da war auch Luisa Treuentzien, verhakt unter Christiana Hallers Arm. Sie flanierten auf der Pappelallee entlang, die von der Wirtschaftseinfahrt hin zum Nordportal des Schlosses führte, ganz in Gedanken und ins Gespräch vertieft. Das Gespräch zwischen Alfons Kerner und Herrmann Tkadlec mündete in einen Schlagabtausch über die Vor- und Nachteile von Mätzig und Liebig & Co., was Caspar auf die Nerven ging. Also beschloss er, sich im Schloss aufzuwärmen und sich vom Turm aus sein Gefängnis, das Mandautal, anzusehen.
Im alten Rüstungssaal ragten Massen von angegessenen Kuchen wie die Ruinen eines Rittergutes von ihren Tellern empor. Caspar beäugte argwöhnisch die Haufen von Essbarem. Der Anblick verschlug ihm glatt den Appetit, was ihn jetzt ärgerte, denn er hatte sich vorgenommen, sich mal richtig den Wanst vollzuschlagen. Maria Weber war wohl die Einzige aus der ganzen Zunft, die statt zum Essen zum Genießen hergekommen war.
Auf der Turmterrasse über dem Rüstungssaal war niemand. Wirklich niemand? Caspar trat durch eine der beiden Flügeltüren hinaus ins Freie. Die Brüstung der Terrasse im vierten Obergeschoss war nur hüfthoch, der Wind stark und aprilfrisch, aber da stand sie. Und ihr Umhang tanzte um ihre Taille und unter ihren dunklen Röcken lugte an ihren Knöcheln die spitzenbesäumte Unterhose hervor. Von hier oben konnte man am Tage bis nach Böhmen gucken. In wenigen Wochen würde man von hier ein violettes Meer sehen können, nämlich dann, wenn die Flachsfelder in der Blüte standen.
Er trat neben sie an die niedrige Brüstung. Sie bemerkte ihn wohl nicht oder gab zumindest vor, ihn nicht zu bemerken. Sie blieb regungslos. Caspar beobachtete sie von der Seite. Warum war sie so traurig? Warum sah sie immer so traurig aus? Er hatte zeitlebens geglaubt, dass Leute, die mit dem goldenen Löffel im Mund geboren waren und denen immer die Sonne aus dem Hintern schien, nichts anderes als glücklich sein mussten. Was geht in dir vor?
Anders als Herrmann Tkadlec oder Peter Schiffner glaubte Caspar nicht, dass ihre Großherzigkeit gegenüber den Wangers eine neue Gemeinheit war. Die meisten Weber misstrauten ihrer Freundlichkeit. Er war sich selbst nicht sicher, ob er ihr vertrauen konnte. Die meisten Leute misstrauten auch den Lätzebündeln, die trotz des Arbeitsverbotes seines Vaters an dessen Einleserahmen zwischen
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