Die Tuchhändlerin: Liebesroman aus der Zeit der Weberaufstände (German Edition)
Bibliothek meines Vaters stehen eintausendzweihundertachtunddreißig Bücher, die ich nach Sachgruppen sortiert habe, aber in nicht einem von ihnen steht etwas Praktisches, was man zum Leben braucht: Wie macht man Korn zu Mehl? Wie Hopfen und Malz zu Bier? Wie kriege ich Flecken aus einem Kleidungsstück heraus? Das letzte Buch, das ich gelesen habe, war Claude Henri de Rouvroys ‚Der Organisator‘, zurzeit lese ich Barthélemy Prospers ‚Enfantin‘. Da geht es um alles andere als ums Brötchenbacken.
Ich kann mir nichts zu essen kochen, aber ich weiß, wo in Paris die beste heiße Schokolade zu bekommen ist. Ich war noch nie in Frankreich, spreche aber bei gesellschaftlichen Empfängen in fließendem Französisch über die Orte, deren Sehenswürdigkeiten man besucht haben sollte. Ich kann eine Droschke führen, aber kein Pferd reiten. Ich kann Landschaften und Stillleben in Öl malen, aber ich kann nicht Johann Eleazar Zeissigs Auferstehung Jesu in unserer Kirche restaurieren. Ich kann andere Leute delegieren, aber mich nicht um mich selber kümmern. Etwas Nutzbringendes zu tun, gilt in den Kreisen, in denen mich mein Vater gern sieht, als bäurisch. Ich weiß nicht, wie die Ware, die ich exportiere, gemacht wird. Wenn mich auf der Messe einer nach der Bindungsart eines Gewebes fragt, mache ich einen Knicks und lächle dazu so lange, bis derjenige seine Frage vergessen hat. Ich kann nichts. Ich kann mich nicht mal allein ausziehen. – Das Wasser, Caspar.“
Er drehte sich zu der Ofenwand um, in dessen Wärmeröhr es brodelte. Sie tat ihm leid, die Expediteurstochter. Er hatte ihresgleichen immer beneidet, doch spätestens jetzt war ihm klar, dass das Leben als Reiche mehr Last denn Lust war.
Er füllte zwei Becher mit Kräutertee.
„Deshalb musst du mir zeigen, wie’s geht.“
Heiß schwappte der Aufguss über den Becherrand, weil Caspars Finger bei Luisas Worten zitterten. Er fluchte. Sie lächelte und der Anblick ihrer Grübchen ließ seinen Bauch kribbeln.
„Ich meine Damast. Das würde ich sehr gern können.“
„Du bist verrückt, komm mit.“
Die Teebecher stellte er auf die Ofenschamotte, einen Tisch oder Ähnliches gab es nicht in der Kammer, in der vier Mädchen wohnen mussten. Ein Ofen, zwei Kastenbetten, zwischen die der Vater ein Nachttischchen gequetscht hatte, ein grob gezimmertes Regal mit einem Vorhang aus Jutebahnen, zwei Truhen, zwei Stühle – mehr gab es nicht, aber alles war schön bemalt mit Korn- und Mohnblumen. Aus dem Regal zog Caspar ein braunes Kleid von Elsbeth. Braun. Andere Farben gab es nicht zur Auswahl.
Luisa drehte sich um und deutete mit dem abgespreizten Daumen über ihre nackte, weiße Schulter. Auf ihrem Rücken reihten sich unter einem umgeschlagenen Saum eine Elle lang nichts als Häkchen. Häkchen, die zu öffnen Caspar so zeitaufwändig erschien wie das Einlesen der Bindungspunkte einer Zeichnung in die Zampelfäden. Mit der anderen Hand raffte Luisa ihr Haar und schob es hoch. Sie hielt den Kopf zur Seite geneigt, sodass ihre grauen Augen im Schein der Ölfunzel dunkel funkelten.
Während Caspar seine Finger über die Häkchen wandern ließ, beobachtete Luisa das Züngeln des unruhigen Lichts. Mit leisem Knistern knipste er die Häkchen aus den dunkelroten Ösen. Mit jedem Knips entblößte sich ein Zoll mehr von ihrer weißen Haut. Knips. Luisa Treuentziens Haut sah weich aus. Knips. In seinem Bauch kribbelte es wieder. Knips. Er konzentrierte sich, an etwas anderes zu denken. Denk nach, Mensch! Denk an irgendwas. Knips. Der Kohleintopf, der im Wärmeröhr stand und für die nächsten zwei Tage reichen musste. Knips. So weiße, weiche Haut. Knips. Er würde nicht widerstehen können. Knips. Herr im Himmel! Der Anblick von Luisas Carmisol, das mit bauschigen Rüschen über den Rand ihres Korsetts spähte, raubte Caspar den Atem. Jetzt war kein Tropfen Saft mehr oberhalb seines Bauchnabels. Was tat sie ihm an? Sie, in die er so heftig verliebt war und die er doch nicht haben konnte? Konnte er nicht? Langsam hakte er weiter eine Öse nach der anderen auf. Knips, knips, knips. Er musste sich ablenken! Rede, Junge! Quatsche irgendwas! „Ich kann dir nicht zeigen, wie man Damast macht.“ Knips.
„Ich bin deine Verlegerin, du musst.“ Grübchen, Lächeln. Er schmolz. „Bald haben wir hier Musterwebmaschinen. Bis dahin will ich meinen eigenen Verlag haben.“
„Und eine Halsabschneiderin werden wie Liebig oder Mätzig?“
Sie schwieg darauf.
Caspar
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