Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
alles zehnmal träger ablaufen als an Land. Ganz, ganz langsam, ungeachtet der Tatsache, ob jemand in diesem Augenblick die Schwelle von den Lebenden zu den Toten passierte. Die Hilfe würde ihn auf jeden Fall zu spät erreichen.
Aber von Marokko und dem Tauchkurs träumte Ali ja gar nicht. Er assoziierte das Geschehen nur damit. Er träumte von der Langsamkeit, die von Raum und Zeit, insbesondere jedoch vom Körper Besitz ergriff wie eine schleichende Lähmung und gegen die man einfach ohnmächtig war. Und er erschauerte angesichts dieser heimtückischen Langsamkeit. Jetzt plötzlich ging ihm auf, daß es die Langsamkeit war, die die Assoziation zwischen den beiden Begebenheiten herstellte. Nun verstand er es, aber diese Einsicht hinderte ihn nicht daran, im Schlaf zu weinen. Man hörte eigentlich nie auf zu weinen, wenn der eigene Sohn, der einzige Sonnenstrahl, den man im Herzen trug, bereits in seinem zweiten Lebensalter ging und nie wieder zurückkam.
Es war von Anfang an ein verfluchter Tag gewesen, damals im Sommer '97. Obgleich der Morgenhimmel mit einer Goldsonne Licht ohne Schatten verhieß, hätte die Situation im Hause Seichtem kaum trüber sein können. Er war wie so oft in den letzten Jahren am Vormittag von einer Sauf- und Bumstour heimgekehrt, noch halb angetrunken, jedoch die ersten Auswirkungen des Katers bereits spürend. Erschöpft und von leichtem Schwindel gepeinigt, fühlte er sich wie das Fleisch gewordene Elend und sehnte sich nach Schlaf. Nutzlose Fragen, warum er derartige Ausflüge bis zum bitteren Ende betreiben mußte oder wann dieser Hunger nach Ausschweifung je gestillt sein würde, schwirrten im Hintergrund seines schummerigen Bewußtseins, ohne daß er mit klärenden Antworten tatsächlich rechnete.
Schon als er zur Tür hereingewankt kam, brach der Krieg aus. Ida erwartete ihn in der Küche mit einer Miene, die den Gemütszustand einer Stange Dynamit verriet, die Lunte abgebrannt bis zum letzten Zentimeter. Ali wollte darauf mit jener abwehrenden Handbewegung reagieren, die Filmopfer bei »Nicht schießen!« verwenden, weil er sich für einen Ehekrach einfach zu krank fühlte. Doch da kam es auch schon zur Explosion.
»Da kommt ja der Hurenbock!« schrie Ida. »Nein, er torkelt!«
»Nicht vor dem Kind«, sagte Ali leise, ging zur Spüle und schenkte sich in ein benutztes Glas Wasser aus dem Hahn ein. Immer mußte sie dieses Haßfeuerwerk vor Patrick abschießen, obwohl sie ganz genau wußte, daß sich ein zweijähriges Kind für die Rolle des Schiedsrichters zwischen Mama und Papa kaum eignete. Es vermochte die mächtigste Trumpfkarte der Erwachsenen, nämlich den Liebesentzug beim Fehlverhalten der einen oder des anderen nicht auszuspielen. Später, viel, so sinnlos viel später, als alles Analysieren so viel Gewinn brachte wie die endgültige Erkenntnis über den Untergang der Dinosaurier, sah er ein, daß die Gefühlsgeiselnahme des Kindes für Ida die einzige Waffe gegen seinen Abschied auf Raten war. Aber das Wort Waffe war in diesem Zusammenhang eigentlich falsch gewählt, es war eher ein Schrei der Hilflosigkeit im buchstäblichen Sinne.
Der kleine Patrick stand zu ihren Füßen und lächelte ihn trotzdem an. Für ihn war Papa wie Sonne, Mond und Sterne, seine kleine reale Welt. In dieser Welt regierte allein die bedingungslose Liebe zu den Eltern, gleichgültig, welche Moralvorstellungen diese auch vertraten und was für Schandtaten sie auch begingen. Und als Ali dieses unschuldige Lächeln sah, da brachen die Schuldgefühle über ihn herein wie schlagartig einsetzende Kopfschmerzen. Patrick war ein Blondschopf, genau wie er selber einer gewesen war, bis im Vorschulalter diese tiefschwarzen, glänzenden Haare von seinem Haupt Besitz ergriffen hatten. Doch die tiefblauen Augen, die in dem unschuldigen, kleinen Gesicht noch intensiver strahlten als seine, die würden bleiben, das wußte Ali. Stets umspielte ein Schalk sein zartes Gesicht, er besaß Humor, das stand außer Zweifel, und er hatte so eine selbstironische Art einen mit nur einer hochgezogenen Augenbraue von unten anzuschauen, wenn man ihn verulkte und er es merkte. Aber vor allem waren es die Liebe und Zärtlichkeit, die er mit sich trug wie ein Magnetfeld, die den Kern seines Wesens ausmachten und von deren Anziehungskraft Ali immer gefangen sein würde.
Patrick war ein Wunschkind auf Umwegen. Daß in ihrer Welt des Erfolgs und des Überflusses, die am augenfälligsten durch das Haus versinnbildlicht
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