Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
schlechter Witz oder was?« Idas aus dem Laken ragender Kopf, der immer wieder auf den Stufen der Wendeltreppe aufschlug: Bamm! Bamm! Bamm! Bibos ungläubige Augen, traurig und hilflos: »Wovon reden Sie überhaupt, Herr Seichtem? Wer sind diese toten Leute? Oder sind sie nur verletzt?« Ohne es zu merken, hatte er die Frequenz seiner Stöße erhöht. Ohne es allerdings auch zu spüren. Ja, er stand an der Schwelle zu einem Herzinfarkt, und doch glich seine Motorik einem durchgegangenen Pferd, völlig außer Kontrolle. Der Geruch des Blutes und die Bilder, die davon ausgelöst wurden, durchdrangen sich, vermischten sich, wurden eins. Jede einzelne Erinnerung färbte sich rot, Blut breitete sich aus über die Bilder seiner Höllensünden, schwappte in Wellen darüber und floß über die Gesichter der Leichen im Erdreich. Er hatte den Höhepunkt erreicht, ohne daß an einen Samenerguß überhaupt zu denken war. Weder Idas künstliches Gestöhne noch irgend etwas, das mit Lust in Verbindung stand, fanden zu ihm noch Zugang. Allein die Gesichter mit den geschlossenen Augen, tief unter der Erde und rot, ganz rot …
Er riß sich schlagartig von Ida los, reckte sich hoch und tastete seinen Körper nach Blutspuren ab. Als seine Hände bei seinen Schamhaaren und seinem Glied angelangt waren, spürte er eine klebrige Feuchtigkeit. Er stürzte aus dem Schlaflager, lief zum Wintergarten und hielt seine Finger in das Sternenlicht. Was er sah, raubte ihm den Atem und drohte sein Herz zum Stillstand zu bringen: Es war Blut! Der rote Saft rann ihm die Hand herunter wie ein flüssiges Mal, das er nie wieder loswerden würde.
»Na und?« hörte er Ida hinter sich in der Dunkelheit. »Ich habe meine Tage!«
12
A lfred Seichtem weinte im Schlaf. Aber ihn quälte weder ein Alptraum noch dachte er sich im Schlummer etwas besonders Trauriges aus, um sich zu geißeln. Nein, er träumte die Wahrheit, eine Dokumentation aus dem wahren Leben, den realen Schrecken, der sich dreieinhalb Jahre zuvor zugetragen hatte. Ali sah im Traum das, was ihn schon vor langer Zeit umgebracht hatte. Er war eigentlich seitdem schon tot. Das war nicht nur so dahergesagt. Er spürte es auch körperlich. Manchmal spürte er es. Manchmal wußte er die Wahrheit. Und dann weinte er ...
Er assoziierte diese Szene stets mit seinem Urlaub in Marokko, dort, wo alles angefangen und der Untergang seinen Lauf genommen hatte. Marokko, Marrakesch, die Souks und Patricks Tod, sie verbanden sich miteinander wie giftige Metalle, die bei ihrer Verschmelzung zu einer tödlichen Melange wurden, sich zu einer tonnenschweren Last erhärteten und ihn daran hinderten, in sein altes Leben zurückzukehren. Genauer gesagt, assoziierte er die Tragödie mit dem Tauchkurs, den sein Luxushotel in Agadir mit angeschlossenem Privatstrand organisiert und an dem er teilgenommen hatte. Erst hatte die Gruppe aus illustren Teilnehmern Trockenübungen mit dem Lungenautomaten und den Preßluftflaschen auf einem Anlegesteg absolvieren müssen. Dabei lernte Ali auch das sogenannte Taucheralphabet, die Bedeutung der unterschiedlichen Handsignale unter Wasser. Beide Hände zusammen und gekrümmt wie beim Wasserschöpfen hieß zum Beispiel BOOT. Wenn eine Hand auf den Schnorchel zeigte und dabei Kreisbewegungen vollführte, bedeutete es (I'm feeling the effects of) NARCOSIS. Es gab fast dreißig solcher Zeichen. Unter anderem auch das Signal BUDDY UP, wenn man seinen Begleiter aufforderte aufzusteigen. Es war ein simples Signal, doch ein neuronaler Zensor hatte seit diesen Tagen immer dafür gesorgt, daß er sich dessen im Falle eines Falles entweder nicht zu entsinnen vermochte oder umgekehrt das Zeichen seiner Bedeutung nicht zuordnen konnte, wenn er es sah. Nur diese Bezeichnung blieb ihm im Gedächtnis hängen: BUDDY UP! Was für ihn jedoch von solcher Wichtigkeit erschien wie kontroverse Theorien über den Ursprung des Universums. Wer brauchte schon so einen Scheiß, so einen Urlaubsscheiß? Nein, man brauchte das nicht, nie, nie im Leben brauchte man das, diese zwei Finger, die …
Nach der Theorie ging es mit der restlichen Ausrüstung wie Schnorchel, Maske, Flossen und Bleigewichten direkt in die Praxis. Da merkte er plötzlich, welch einer Anstrengung es bedurfte, sich schon sechs Meter unter Wasser fortzubewegen, wie beängstigend langsam die Bewegungen wurden und was es hieß, sich in einer Zeitlupenwelt zu bewegen. Im Falle einer Gefahr, des notwendigen schnellen Handelns würde
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