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Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)

Titel: Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Akif Pirincci
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ein rascher Blick auf den Roboter. Er hatte die Straßenbahnschienen erreicht. Sein rechter Fuß verhakte sich in der Rille der Schiene; er kippte nach vorn, fiel jedoch nicht um, sondern zappelte aufrecht in einer diagonalen Stellung. Der linke Fuß und die Arme arbeiteten unbeirrt weiter, so daß der Eindruck entstand, ein riesiges Insekt habe sich unglücklich verfangen. Ali riß sich herum und gewahrte voll Entsetzen, daß die Straßenbahn in der Zwischenzeit eine weite Distanz zurückgelegt hatte und sich nun nur noch etwa fünfzehn Schritte von dem Roboter entfernt befand. Seine Hoffnung, der Fahrer möge die Situation rechtzeitig erkennen und eine Vollbremsung tätigen, zerschlug sich. Denn hinter der Frontscheibe sah man ihn, halb abgewandt, in einem Gespräch mit einer alten Frau vertieft.
    Da preschte Patrick auf die Fahrbahn vor, um dem Blechkameraden zu Hilfe zu eilen!
    Und da … ja, genau in diesem Moment schoß die Langsamkeit in Alis Glieder wie der rabenschwarze Strahl eines Tintenfisches, und er verwandelte sich in einen Taucher, einen Taucher allerdings, der nicht sechs Meter unter dem Wasser schwamm, sondern tausend! Wie in einem Eisblock eingefroren, starr und atemlos, sah er, wie Patrick, der gerade noch neben ihm gestanden hatte, vom Bürgersteig auf die Straße sprang und auf die Schienen zurannte. Er reagierte, setzte sich sofort in Bewegung und lief seinem Sohn hinterher, doch die Langsamkeit, die er sich gleich einer unheilbaren Krankheit in Marokko eingefangen zu haben glaubte, lahmte seine Bewegungen. Er kam sich vor, wie tief, tief unter Wasser, alles, was er tat, lief wie in Zeitlupe ab und schien der Zeit um ihn herum hinterherzuhinken, und sogar seine Schreie, Patrick! Patrick! Patrick!, hörten sich gedehnt und mehrere Oktaven zu tief an.
    Ali sah sich selbst, wie er seinem Sohn nachjagte, und ganz hinten den Roboter, der in der Schienenritze eingeklemmt hing und seinem lustigen Bewegungstrieb trotzdem freien Lauf ließ, mit den Armen ruderte, seine Laserkanonen ausfuhr und seinen Spruch verkündete, als wäre nichts geschehen. Und für den Bruchteil einer Sekunde schoß es ihm durch den Kopf, daß er seine Karriere genau dieser Situation verdankte, nämlich einem Straßenbahnunglück. Das Gemälde der angefahrenen jungen Frau hatte ihn erst berühmt gemacht. Abraham aus der Bibel kam ihm daraufhin in den Sinn, jener Abraham, der bedingungslos erfüllte, was Gott ihm auftrug, der sogar seinen eigenen Sohn Isaak opfern wollte, als er es von ihm verlangte. Sein Gott hatte immer Ich geheißen! Ich, der große Künstler, Ich, der Bonvivant, Ich, den man gefälligst verschonen mochte mit dem spießigen Familienkram. Und so wie es schien, sollte nun Patrick zu seinem Isaak werden, dem sinnlosen Opfer für den selbstgefälligen Gott.
    Der Straßenbahnfahrer wandte sich jetzt wieder nach vorne. Das registrierte Ali mit einem Seitenblick, während er in seiner Blase aus Langsamkeit um das Leben seines Sohnes rannte. Man konnte es dem bestürzten Gesichtsausdruck des Mannes ablesen, daß er nun schlagartig die drohende Katastrophe erfaßte, das Kind, das ihm vor das Fahrzeug lief, den hinter ihm herhechelnden Vater und das Spielzeug in der Schiene, die Ursache des sich anbahnenden Unglücks. Endlich betätigte er die Bremse. Das ohrenbetäubende Kreischen der abrupt blockierten Stahlräder ertönte, aus deren Reibeflächen Funken sprühten. Doch es war zu spät!
    Patrick hatte den Roboter inzwischen erreicht. Er stand genau in der Mitte der Schiene und kniete sich zu seinem zappelnden Liebling. Mit einem Mal begriff Ali, daß er ihn nur durch einen Gewaltakt vor dem sicheren Tod retten konnte. Er befand sich nur mehr zwei Armeslängen von ihm entfernt, die Straßenbahn vielleicht vier. Es war unmöglich, ihn noch im letzten Augenblick zurückzureißen. Deshalb mußte er ihm einen Stoß auf den Rücken versetzen, einen derart wuchtigen Stoß, daß er auf die andere Seite der Schienen flog. Es war eine gute Idee, und er sah sogleich seinen langsamen rechten Arm emporgehen, sich Patricks Rücken nähern, der zum Greifen nahe war, es trennten ihn nur noch ein paar Zentimeter davon, danach immer näher und näher, jetzt spürte er ihn auch schon, es war so gut wie vollbracht …
    Aber dann passierte etwas Schreckliches, etwas so Schreckliches, daß man es kaum in Worte fassen konnte. Es passierte etwas zusätzlich Schreckliches, noch schrecklicher als der Tod des eigenen Kindes. Etwas, was er Ida

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