Die Tuerme des Februar - Phantastischer Roman
sein.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Wieso wissen Sie …?«, fragte ich nach einer Weile.
»Das war mir vom ersten Augenblick an klar, als ich dich sah. Deshalb habe ich Téja geschickt, um dich zu holen und hierher zu bringen. Sie hatte ja deinen Strumpf und konnte daher deine Spur verfolgen.«
»Kennen Sie mich denn?«, fragte ich.
»Nein, jedenfalls nicht vor dem 30. Februar.«
»Aber warum ließen Sie denn dann den Hund …?«
»Weil du hier in Sicherheit bist.«
»Dasselbe sagte Herr Avla auch«, flüsterte ich. »Und er …«
»Wer ist Herr Avla?«
»Der Turmwächter. Er sagte … Lassen Sie mich nicht gefangen nehmen und verfolgen …?« Ich wollte aufstehen, ich musste weg von hier; aber wohin?
Er schaute mich noch immer an, mit den wachen Augen eines Seemannes, und zwar recht freundlich. »Tim, mein Junge, behalte doch die Nerven! Natürlich lasse ich dich nicht inhaftieren! Hat dir das der Turmwächter erzählt?«
»Ja. Stimmt es denn nicht?«
»Ja und nein. Hör mal gut zu, dann werde ich es dir erklären. Ich sage dir meine ganz persönliche Meinung: Es kümmert mich kein bisschen, ob du dein Gedächtnis verloren hast oder nicht. Ja, ich glaube sogar, dass du ohne Erinnerung besser dran bist als mit – verstehst du? Besser ohne als mit.«
»Aber ich möchte wissen, wer ich bin!«, rief ich leise. »Ich weiß ja nicht mal, ob ich Tim heiße …«
»Namen sind Schall und Rauch«, sagte er. »Du bist doch nicht nur dein Name. Sag mal, von wann stammen deine ältesten Erinnerungen?«
»Von vorgestern, vom 30. Februar.«
»Und wie viele Erinnerungen sind in der kurzen Zeit schon aufgetaucht?«
Ich überlegte. »Eine ganze Menge!«
»Gute oder schlechte? Erfreuliche oder unangenehme?«
»Unangenehme … ach nein, auch erfreuliche.«
»Und welche?«
»Wie ich zu Herrn Avla in die Hütte kam (und die Nacht, in der Herr Avla noch auf war, als ich plötzlich wach wurde; aber das erzählte ich nicht), und die Wanderung hierher mit Téja (das sagte ich!), und gerade eben, als ich hier angekommen war und wir zusammen Kaffee tranken.«
»Ich schütte dir gleich noch einmal ein. Hast du den Eindruck, dass du diese erfreulichen Dinge wieder vergessen wirst?«
»Nein – gewiss nicht.« (Wenn ich das nur mit Sicherheit wüsste!)
»Und die unangenehmen Erinnerungen? Denkst du gerne daran zurück?«
»Lieber nicht.«
»Das Gute vergisst man nicht so schnell«, sagte er. »Darum glaube ich, dass du ohne Gedächtnis besser dran bist als mit. Weshalb solltest du es sonst auch verloren haben? Wahrscheinlich doch deswegen, weil es voll von unangenehmen Erinnerungen war.«
Ich hatte das Gefühl, als bekäme ich innerlich eine Gänsehaut.
Er beugte sich herunter und streichelte die Katze. »Also, warum solltest du den Kopf hängen lassen? Genieße die Gegenwart und sei froh, dass du hier bist. Hier lebt es sich ganz ausgezeichnet. Lass dich nur nicht bange machen.«
Die Katze ließ ein leises Klingelgeräusch vernehmen und begann zu schnurren. Der Mann redete noch ein Weilchen weiter und holte noch mehr Kaffee und die innere Gänsehaut verschwand wieder.
Er nannte mir seinen Namen: »Jan Davit – du kannst mich ruhig Jan nennen.« Er ist nicht so alt wie Herr Avla, aber doch älter als ich. »Und jetzt wird es Zeit zum Essen«, sagte er. »Ich sage eben Téja Bescheid, dass wir Hunger haben.« Er ging hinaus, und wieder musste ich mich besinnen, dass er seine Tochter gemeint hatte und nicht den Hund. Ein Hund, eine Katze, eine Tochter – hat er auch eine Frau? Vater, Mutter, Tochter, Kind … Ich müsste mich doch eigentlich an meinen Vater und meine Mutter erinnern!
Er (Jan Davit) kam wieder zurück und hielt etwas in der Hand. »Ich habe dies hier auf dem Boden gefunden; vielleicht ist es dir aus der Jacke gefallen. Gehört es dir?«
Es war die Kokardenblume. Ich streckte meine Hand aus. »Ja«, sagte ich.
Aber er gab sie mir nicht. »Das war eine schöne Blume«, sagte er langsam. »Woher hast du sie?«
»Gepflückt.«
»Vorgestern?« Auf seiner Stirn erschien eine Falte.
»Ja. Darf man das denn nicht?«, fragte ich beunruhigt. »Ist es verboten?«
»Es ist nicht verboten, solange man nicht zu viel davon pflückt.« Er lachte mir zu, machte aber trotzdem eine besorgte Miene. »Weißt du, ich bin ein Dünenwächter; ich passe auf alles ein bisschen auf.«
Erst ein Turmwächter und jetzt ein Dünenwächter; das finde ich wirklich nicht schön. Warum muss ich immer wieder
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