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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kishwar Desai
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Kirchen und Gurdwaras, unsere Gebetshäuser, im Gegensatz zu manchen Tempeln, die oft erfüllt sind von Lärm und Gepolter und dissonanter Musik, gerade durch die Stille, die in ihnen herrscht, oder die sorgfältig intonierte Musik, die in ihnen erklingt, Ehrfurcht erzeugen? Ist es nicht so, dass wir in ergriffenem Schweigen verharren, sooft wir bildliche Darstellungen von Qual und Folter vor uns sehen? Ich musste dem Impuls widerstehen, den obligaten Kniefall auszuführen und mich zu bekreuzigen.
    Ehrenurkunden nahmen eine ganze Wand des Zimmers ein. Die meisten davon waren für herausragende Leistungen in Künsten verliehen worden, für deren Vermittlung die Schule meiner Erinnerung nach bekannt gewesen war: das Theaterspiel, die Kunst des Debattierens sowie die Vortragskunst. Neben der Tür hingen Fotografien von den Jahrgangsbesten in der aus blauem Rock und weißer Bluse bestehenden Schuluniform – alles sehr nett und adrett.
    Auf Schwester Sarahs Schreibtisch war nicht ein einziges Stück Papier zu entdecken, dafür nahm der Monitor eines Computers die Hälfte davon ein – was eigentlich gar nicht zu ihrer strengen Ordenstracht passen wollte. Sie war eine recht korpulente und dunkelhäutige Frau, die wahrscheinlich erst nach meiner Zeit dort an die Schule gekommen war. Als ich ihr den Grund meines Besuches nannte, geriet sie sichtlich in Verlegenheit.
    Â»Das arme Ding. Was für eine Tragödie, nicht wahr, finden Sie nicht auch?«
    Â»Können Sie mir etwas über sie sagen? War sie eine gute Schülerin?«
    Â»Recht gut, wissen Sie, bis ihre Schwester … nun … verschwand. Bis zu diesem Zeitpunkt waren ihre Noten gut gewesen, und wir hatten auch einen netten Hauslehrer für die beiden Mädchen gefunden. Doch danach, wie Sie sich wohl vorstellen können … waren ihre Leistungen gerade eben noch befriedigend, ja, so könnte man sagen. Nicht, dass sie uns irgendwelches Kopfzerbrechen bereitet hätte; nein, im Unterricht verhielt sie sich immer mucksmäuschenstill.« Schwester Sarahs Tonfall nahm eine mitleidige Note an. »Wir waren schockiert, schockiert und fassungslos … Sie können es sich ja vorstellen.« Die ständige Wiederholung der Floskel, ob ich etwas wüsste oder fände oder ob ich es mir vorstellen könne, war offenbar fester Bestandteil ihres Sprachgebrauchs.
    Â»Kannten Sie ihre Eltern?«
    Â»Aber ja, schließlich ist sie schon seit Kindergartenzeiten an unserer Schule gewesen. Sie haben keinen Elternabend versäumt. Ausgesprochen liebenswürdige Menschen, wissen Sie. Sehr orthodox. Die Mutter war ausgesprochen religiös veranlagt, wissen Sie. Hat die ganze Zeit gebetet. Arme Seele.«
    Â»Aber mir ist gesagt worden, Durga hätte keine Freundinnen gehabt und wäre nie irgendwohin ausgegangen.«
    Â»Sie hat eine sehr strenge Erziehung genossen. Sehr ruhiges Kind, las viel.«
    Sie schaltete ihren Computer ein und überflog rasch einige Dateien. »Da haben wir ihre letzte Beurteilung. Hier steht, sie wäre eine gute Schülerin gewesen. Besonders begabt, was das Verfassen von Essays betrifft, und mit Bestnoten in Englisch. Hervorragender Wortschatz. Alles in allem achtzig von hundert Prozentpunkten in ihrem Abgangszeugnis. Hatten wirklich nie Schwierigkeiten mit ihr.«
    Sie wandte den Blick vom Bildschirm ab und seufzte. »So ganz anders als all die übrigen Mädchen. Wissen Sie, auch in Jullundur bleibt die Zeit nicht stehen. Man weiß nie, was den Mädchen heutzutage alles in den Sinn kommt. Vergangenes Jahr mussten wir zwei Schülerinnen der Anstalt verweisen, weil …« Schwester Sarah hielt jäh mitten im Satz inne, sie zögerte, als ob sie es doch noch gerne zur Sprache gebracht hätte, aber dann schien sie es sich anders überlegt zu haben und fragte mich, ob ich gerne einen Tee trinken würde.
    Während sie läutete, um den Tee kommen zu lassen, betrachtete ich die vergilbten Fotografien, und da kam mir eine schwache Erinnerung an Schwester Josie wieder in den Sinn. Sie war die netteste unter all den Nonnen gewesen, die Einzige, die unsere Kniekehlen nicht mit einem Holzlineal bearbeitete oder uns nach Unterrichtsende endlose Runden um den Sportplatz laufen ließ, wenn wir im Unterricht »unartig« gewesen waren. Sie war jung und schön, und wir hatten Mitleid mit ihr, weil sie es einfach nicht ertrug, so viele Schichten von

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