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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kishwar Desai
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    Binny hatte also vorgehabt, ihren Jitu zu sich nach England nachkommen zu lassen. Überall im Punjab gab es jede Menge Familien, die nur zu bereit wären, ihre Töchter oder ihre Söhne für einen ausländischen Pass herzugeben. Vor allem der Wert der Söhne war in Pfund oder in Dollar gerechnet weit höher als in Rupien, und außerdem würden diese Söhne in England als Taxifahrer oder als Reinigungskraft weitaus mehr verdienen, als es ihnen in ihrer Heimat je möglich sein würde. Falls sich allerdings kein legaler Weg oder keine passende Braut finden ließ, wurden die jungen Männer zu Kabutars , »Tauben«, ein Euphemismus für die unzähligen illegalen Einwanderer aus dem Punjab, die wie aus heiterem Himmel irgendwo an einer europäischen oder amerikanischen Küste auftauchen, wohin sie sich auf dem See- oder auf dem Luftweg haben schmuggeln lassen. Wenn sie in der Fremde ankommen, sind sie oft mehr tot als lebendig oder am Verhungern – doch wenn man aus dem Punjab stammt, lässt man sich nicht so leicht unterkriegen; man treibt rasch einen Landsmann auf, und schon ist man im fremden Land untergetaucht. Und zwar endgültig. Eine andere Methode besteht darin, kleine Kinder aus einem Dorf mitzubringen und dann schlichtweg zu vergessen, sie wieder nach Hause zu schicken. Diese wachsen dann in Waisenhäusern auf, wo sie ein Leben leben, das dem im Punjab eigentlich sehr ähnlich ist – die gleiche Sprache, die gleichen Gebete, die gleiche Kleidung. Allein das Wetter machte den Unterschied aus – sowie die Aussicht auf einen Schulbesuch in einem Land der westlichen Welt. Es tauchen dann auf geheimnisvolle Weise Ausweisdokumente mit dem Namen des Kindes auf, und wieder ist ein nach allen Regeln der Kunst aufs Kreuz gelegter Wohlfahrtsstaat um einen neuen Mitbürger reicher.
    Jitu hätte keinen so dornenreichen Weg vor sich gehabt – wenn er denn lange genug gelebt hätte. Den Akten entnehme ich, dass er auf einem immerhin in der dritten Liga mitspielenden College seinen Bachelor of Arts gemacht hatte, womit er eine wichtige Qualifikation aufweisen konnte. Da er zudem auch noch aus einer vermögenden Familie stammte, hätte er in früheren Zeiten in seiner neuen Heimat geradezu im Überfluss leben können.
    Doch auch die Atwals waren nicht gefeit gegen immer karger werdende Erträge ihres Pachtlandes. Die verheerende Wirkung von Mehrfachanbau in ein und demselben Jahr sowie des Einsatzes von Pestiziden schmälerte die Gewinnmarge bei stetig steigenden Fixkosten auf ein absolutes Minimum. Nach und nach wurde sämtliches Agrarland einer lukrativeren und weniger unsicheren Bestimmung als dem Betrieb von Landwirtschaft zugeführt oder in Bauparzellen aufgeteilt.
    Was ihre finanzielle Lage betraf, brauchten die Atwals zwar noch lange nicht am Hungertuch zu nagen, aber Jitu war lediglich ein Neffe und würde daher nicht den Löwenanteil ihres Besitzes erben. Vor diesem Hintergrund war es für ihn nur naheliegend, sich nach einer ausländischen Braut umzusehen.
    Ã„hnlich würde in England eine junge Frau wie Binny, die bereits ihre erste Bekanntschaft mit Alkohol hinter sich, ihren ersten Freund gehabt, ihren ersten Minirock getragen und ihre Jungfräulichkeit eingebüßt hatte, in einen roten Brautsari gehüllt und in die Arme einer traditionellen Werten verhafteten Familie verfrachtet werden. Für ihre Eltern dürfte dies die Erfüllung ihrer Träume seit der Geburt ihrer Tochter sein. Und von diesem Augenblick an würde die englische Freizügigkeit dieser Tochter sorgsam unter ihrem seidenen Schleier verborgen sein und nie wieder zum Vorschein kommen. Für all die Probleme, die daraus erwüchsen, fühlte sich dann niemand zuständig, und niemand würde auch je versuchen, eine Lösung für sie zu finden. Bis sich ein makabrer Zwischenfall wie zum Beispiel ein Massenmord ereignet und sich das Bild im Kaleidoskop mit einem Male verzerrt. Hatte Jitus bevorstehende Auswanderung etwa auf irgendeine Weise mit den Morden zu tun?
    Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass ein weiterer schwülheißer Abend, der seine feurigen Fäuste in die stillstehende Luft stoßen würde, im Anmarsch war. Vom Winter waren noch keinerlei Anzeichen zu entdecken. Unter normalen Umständen wäre ich um diese Zeit des Jahres zu Hause in Delhi mit meiner Mutter, würde Geschenke für das

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