Die Ueberlebende
wehmütigen grünen Augen betören lassen, und ich war augenscheinlich nicht die Erste. Schon wieder spürte ich, wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg. Wie hatte ich nur so töricht sein können! Ein gutaussehender Mann brauchte mir bloà einen einzigen Blick zuzuwerfen, und schon war ich wie Wachs in seinen Händen.
»Und warum hat sie dann ihre Familie umgebracht?«
Amrinder schüttelte den Kopf. »Ich glaube, du bist viel zu lange fort gewesen. Sie hätten doch niemals zugelassen, dass sie ihn heiratet.«
»Wenn aber die Schwester bereits eine Affäre mit dem Hauslehrer hatte, dann erkläre mir doch bitte, wieso man ihn weiterhin ins Haus gelassen hat, um nun auch noch das jüngere Mädchen zu unterrichten? Waren die Atwals so dumm, dass sie sich zwei Mal hintereinander Sand in die Augen streuen lieÃen?«
»Sie hat sich auÃerhalb des Hauses mit ihm getroffen. Sie wusste ja schlieÃlich, wo er wohnte.«
»Nein, das lasse ich nicht gelten. Ich bin auch bei ihm zu Hause gewesen. Er ist verheiratet, hat sogar eine kleine Tochter von ungefähr zehn Jahren. Gerade mal vier Jahre jünger als Durga!«
Amrinder warf mir einen mitleidigen Blick zu, einen Blick, den ich aus unserer gemeinsamen Schulzeit kannte. Wir waren schlieÃlich zwei alte Widersacherinnen, hatten uns gegeneinander positioniert im Wettstreit um die Goldmedaille für die beste Schülerin, hatten versucht, uns gegenseitig darin zu überbieten, die Fragen der Lehrerin zu beantworten, ehe sie sie auch nur ausgesprochen hatte. Hatten tagelang an Schulprojekten gearbeitet, die uns die gewünschte Anerkennung und einen lobenden Eintrag im Notizbuch der Lehrerin einbringen würden ⦠Theater, die Kunst der freien Rede â wir versuchten, in allem und jedem zu glänzen. Das war eine zermürbende Zeit gewesen, und nun sagte mir ein Blick in ihre Augen, dass wir einander wieder im Ring gegenüberstanden und uns misstrauisch umkreisten. Doch diesmal stand für sie mehr auf dem Spiel als für mich â die Karriere ihres Mannes. Wenn es irgendetwas gab, was ich wusste, musste sie es unbedingt aus mir herauskitzeln. Während ich an meiner Limonade nippte, spürte ich den AdrenalinstoÃ. Diesmal war ich die besser Vorbereitete â anders als damals, als sie versuchte, mir die Auszeichnung in letzter Minute vor der Nase wegzuschnappen. Diesmal nicht. Ich setzte mich kerzengerade hin und sah sie an.
»Ich verstehe dich nicht, Simran. Amarjit hat dich nur gebeten, dich mit Durga zu unterhalten, und nicht darum, in halb Jullundur herumzuschnüffeln und Hauslehrern nachzustellen! Du bist Sozialarbeiterin und keine verdammte Privatdetektivin! Kein Wunder, dass du so lange brauchst, bis sie Vertrauen zu dir fasst.« Tantchens glänzende Knopfaugen nahmen mich ins Visier wie ein Raubvogel seine Beute.
Amrinder sah mich nachdenklich an. »Für Ermittlungen ist die Polizei zuständig, nicht du. Alles, was sie von diesem Mädchen erfahren wollen, ist die Wahrheit darüber, was sich in jener Nacht abgespielt hat. Und zu diesem Zweck wollen sie von dir schlicht und ergreifend wissen, wann sie so weit ist, ihre Aussage zu Protokoll zu geben, wann sich ihre Gemütsverfassung so weit stabilisiert hat, mehr nicht. Das ist doch nicht zu viel verlangt.«
Ich sah erst die Mutter an, dann die Tochter. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte, ihnen zu erklären, was mich bewegte: meine Sorge um Durga, mein inniger Wunsch, sie zu retten â sie und alle übrigen Kinder, denen es so erging wie ihr.
Einen Augenblick lang fühlte ich mich in unsere Schulzeit zurückversetzt: Ich war im Schulleiterinnenzimmer und ganz erhitzt, weil ich den Korridor hinuntergerannt war. Amrinder stand triumphierend zur einen Seite der Mutter Oberin, Amrinders Mutter saà dick und fett und die Nase hoch in der Luft auf einem Stuhl ihr gegenüber. In der Hand hielt die Mutter Oberin ein Notizbuch. Wie könnte ich jenen Moment jemals vergessen, in dem sich mein Leben für alle Zeiten veränderte? Mein Puls raste, und mich beschlich das Gefühl, dass ich bereits dabei war, die Schlacht zu verlieren.
»Natürlich habe ich mich mit ihr unterhalten, aber ich habe mir gedacht, dass ich auch mit den übrigen Menschen sprechen sollte, die etwas mit diesem Fall zu tun haben, um mir einen Ãberblick zu verschaffen und besser verstehen zu können, was
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