Die Ueberlebende
Zeilen laut vor mich hin sagte, erinnerte mich das an die Zeit, als Batalvis Poesie geradezu mein Lebenselixier gewesen war. Zu meiner gröÃten Verblüffung übersetzte Durga die Worte flieÃend ins Englische:
» Oh Mutter, ich habe einen Raubvogel zu meinem Liebsten genommen
Wenn ich ihm seine Brotkrumen füttere, will er sie nicht essen
Und darum gebe ich ihm das Fleisch meines Herzens .«
Shiv Kumar Batalvi â ein ausgesprochen gutaussehender, alkoholabhängiger punjabischer Dichter, der jung gestorben war â hatte düster-romantische Gedichte verfasst, die eigentlich nicht unbedingt für die empfindsamen Seelen Vierzehnjähriger gedacht waren.
Durga zuckte die Achseln und sagte leise: »Meine Schwester hat sie mir zu lesen gegeben, als ich sogar noch jünger war. Ich glaube, ich habe immer schon einen eher erwachsenen Geschmack gehabt. Das passiert eben, wenn man eine Schwester hat, die fünf Jahre älter ist. Man versucht immer, ihren Vorsprung einzuholen. Ich war auf jeden Fall reifer als die übrigen Mädchen in meiner Klasse.«
»Hast du auch mit deiner Schwester zusammen Unterricht bei Harpreet gehabt?« Ich musste sehr darauf achten, sie nicht zu verschrecken, aber Ma Sukhis bissige Bemerkungen spukten mir immer noch im Kopf herum.
»Schon, aber erst, als ich ⦠so neun oder zehn war. Nachdem Sharda fort war, hatte ich keinen Unterricht mehr bei ihm.«
»Er scheint dich sehr zu mögen.«
»Er ist ein netter Mann.« Ihre Stimme verriet nichts. Entweder war sie eine hochbegabte Schauspielerin, oder es berührte sie wirklich überhaupt nicht. Nur das leichte Zucken ihres Mundwinkels machte sich ein wenig deutlicher bemerkbar.
»Bist du mal seiner Frau begegnet?«
»Nein, niemals.«
»Ich habe sie getroffen ⦠als ich bei ihm in seinem Haus war. Sie sieht aus, als hätte sie Verbrennungen erlitten.«
»Es ist ihre zweite Ehe. Sie hatte sogar eine Tochter, aber sie haben versucht, sie wegen der Mitgift zu verbrennen. Harpreetsir hat sie geheiratet, weil keiner sonst sie haben wollte. Selbst ihre Eltern wollten sie nicht mehr bei sich aufnehmen.«
»Woher weiÃt du das alles? Ich dachte, die beiden hätten erst kürzlich geheiratet.«
Sie zögerte ein wenig mit der Antwort.
»Ich habe darüber in der Zeitung gelesen.«
»In welcher denn?«
»Das weià ich nicht mehr. Daily Awaaz , glaube ich.«
Ich musste aufpassen, dass wir nicht vom Thema abkamen.
»Ist er jeden Tag zu euch ins Haus gekommen, als deine Schwester noch da war?«
»Warum interessierst du dich so für Harpreetsir?«
»Ich finde, er ist ein interessanter Mann, und ich dachte mir, dass du vielleicht gerne ein wenig über jemanden reden würdest, dem deine Schwester etwas bedeutet hat.«
»Woher willst du das wissen?«
»Du musst mir vertrauen. Das kann sich doch jeder denken. Deine Familie war böse, sie haben Sharda fortgeschickt. Ich weiÃ, wo sie sie hingeschickt haben. Ich habe dir doch gesagt, dass ich in der Anstalt gewesen bin. Ich habe sogar ein Bild von ihr â¦Â«
Ich zog das Foto von der abgemagerten Sharda aus meiner Tasche und beobachtete Durga dabei ganz genau.
Sie warf einen Blick darauf und sog scharf die Luft ein.
»Didi.«
Urplötzlich strömten ihr wie neulich schon die Tränen über das Gesicht, aber sie gab dabei kein Geräusch von sich. Dieses Kind hatte gelernt, seine Tränen zu verbergen, zu weinen, ohne dass jemand es merkt. Was mochte sie alles erduldet haben? Es war nicht zu übersehen, dass sie schrecklich gelitten haben muss â dass sie die ganze Zeit um das Schicksal ihrer Schwester gewusst hatte. Es machte mich wütend, ein Kind so hilflos zu sehen. Es schien, als wäre sie wie in einer Falle gefangen. Wer hatte diese Falle für sie ausgelegt? Wer steckte hinter alldem?
Mehr und mehr kam ich zu dem Schluss, dass sie unschuldig war. Sie war zweifellos ein tief verletztes, sehr wütendes Kind, aber es war auch eine Sanftheit an ihr, und in jeder ihrer Bewegungen schien eine bleierne Müdigkeit zu stecken. Es war, als wäre ihr Leben schon an seinem Ende, als friste sie nur noch ihr Dasein. Irgendjemand hatte sie benutzt und benutzte sie vielleicht noch immer.
»Hast du sie je so gesehen wie auf diesem Foto?«
»Nur ein Mal.«
»Wo war das?«
»Im Haus ⦠mein Vater war bei
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