Die Ueberlebende
man uns zugedacht hatte, und wir nie wussten, wann nichts mehr für uns da sein würde.
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Mit dem festen Vorsatz, endlich dahinterzukommen, was Sharda zugestoÃen war, kehrte ich in das Haus in Company Bagh zurück. Irgendwie war ich mir sicher, dass ich die Antwort in dem Zimmer, aus dem ich ihre Bücher mitgenommen hatte, finden würde. Oder in dem geheimnisvollen Anbau hinter dem Haus, in den ich nicht ein einziges Mal vorgedrungen war. Oder in dem Brunnen vor dem Haus. War er noch in Gebrauch?
Es ist etwas Unheimliches an einem versiegten Brunnen. Vor unserem alten Haus in Jullundur hatten wir früher auch einen Brunnen, um damit unseren kleinen Gemüsegarten zu bewässern. Es hat mich immer fasziniert, wie das Rad sich auf und nieder bewegte, während der Ochse, der daran festgespannt war, seine immer gleichen Kreise um den Brunnen zog. Trotz der Blätter, die ständig an seiner Oberfläche schwammen, und des Mooses, das innen an der Brunnenwand wuchs, schmeckte das Wasser aus diesem Brunnen ganz besonders köstlich â was man von indischem Leitungswasser nie würde behaupten können.
In Gedanken an frühere Zeiten stellte ich mich neben den stillen Brunnen in Company Bagh und schaute in seinen tiefen Schacht hinunter. Nichts. Der Brunnen war knochentrocken. Ich wusste zwar, dass der Grundwasserspiegel im Punjab wegen des ausgebliebenen Monsunregens stark gefallen war, doch dies verwunderte mich dennoch. Nicht einmal das kleinste Wasserpfützchen, nur eine feuchtklamme Dunkelheit, aus der ein leicht fauliger Geruch aufstieg, als wäre ein Tier in den Brunnen gefallen und dort verwest. Die Bewacher des Hauses beobachteten mich von der Tür aus, lieÃen mich aber gewähren.
Ich ahnte, was sie sich vorstellten: Gleich springt die Alte hinein, und dann ist hier endlich mal was los. Aber ich würde sie enttäuschen.
Als ich zu ihnen hinüberschlenderte, sah ich, dass am Hauseingang mehr Fahrzeuge geparkt waren als beim letzten Mal, darunter ein Geländewagen der Polizei. Anders als bei meinem ersten Besuch lieà man mich diesmal ohne viel Fragerei das Haus betreten, dazu brauchte ich nur die magischen Namen Amarjit und Ramnath fallen lassen. Vermutlich ging man davon aus, dass ich zu der Gruppe gehörte, die sich bereits im Haus befand.
Als ich eintrat, bemerkte ich sofort die veränderte At mosphäre. Es roch nicht mehr so moderig wie beim letzten Mal. Mir fiel auf , dass die Laken über den Möbeln allesamt entfernt worden waren. Auch die Flecken an den Wänden hatte sich jemand vorgenommen, die Stellen schienen übertüncht worden zu sein. Hatte Amarjit mir nicht versichert, dass man aus Gründen der Beweissicherung nichts anfassen würde? Ein Stückchen weiter stand die Tür zu Shardas Zimmer weit offen, und ich konnte Stimmen hören.
Ich trat näher heran und machte eine weitere Entdeckung. Da stand Gurmit Singh, der Rosenkavalier. Er hatte mir den Rücken zugewandt und unterhielt sich mit jemandem. Wieder eine vielversprechende Freundschaft, die in die Binsen ging. Er hatte nicht lange suchen müssen, um jemanden für sein Exklusiv-Interview in der Sonntagsausgabe aufzutun, aber dieser jemand war ganz bestimmt nicht ich. Die beiden waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie mich gar nicht bemerkten. Neben der Tür hatte Ramnath sich aufgebaut und zeigte gerade auf das Bett.
»Dies ist das Zimmer, in dem man sie ans Bett gefesselt gefunden hat«, sagte er. »Sie behauptet, vergewaltigt worden zu sein, aber es waren recht lockere Knoten. Also stellt sich die Frage, wieso sie sich nicht selbst befreit hat.«
Während Gurmit Fragen stellte und eifrig Notizen machte, war ein Fotograf dabei, in einem fort zu knipsen. Rasch verbarg ich mich hinter der Türöffnung. Aber dennoch entging mir Gurmits nächste Frage nicht.
»Und Sie sind sich ihrer Täterschaft ganz sicher?«
»Absolut. Wir haben so viele Beweise, dass es vor Gericht gar kein Problem geben wird. Es war ein schwieriger Fall, aber irgendwie ist es uns doch gelungen, ihn zu lösen.«
Ramnaths Worte stellten den Grundsatz der Rechtsprechung, nach dem jemand so lange als unschuldig zu gelten hatte, bis das Gegenteil bewiesen ist, glatt auf den Kopf. Doch die Gier nach Schlagzeilen und öffentlicher Anerkennung lieà ihn alle moralischen Grundsätze in den Wind schreiben. Sein
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