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Die Ueberlebende

Die Ueberlebende

Titel: Die Ueberlebende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kishwar Desai
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bis ich zu ihrem Kern vordrang, und da waren dann nicht mehr allzu viele Gefühle für meine Mutter übrig geblieben.
    Ich gab meinen ungeborenen und unbekannt gebliebenen Schwestern Namen. Ich beging ihre Geburtstage mit einer kleinen Feier und leistete gemeinsam mit Sharda über einer versengenden Kerzenflamme ewige Schwüre, dass wir unseren Töchtern das Leben und die Liebe nicht vorenthalten würden.
    Die engste Verbündete meines Vaters bei dessen Tun und Treiben war natürlich Beeji, seine eigene Mutter, die keinen Zweifel dran ließ, dass sie ihre Schwiegertochter dafür hasste, dass es dieser nicht gelingen wollte, ihr den ersehnten männlichen Erben zu gebären. Das hatte gewiss damit zu tun, dass Beeji über alle Maßen stolz auf ihre eigene robuste Konstitution war, die es ihr erlaubt hatte, in rascher Folge drei Söhne auf die Welt zu bringen. Über die paar Kinder dazwischen, die von den Wassern des Beas davongespült worden waren, ehe sie auch nur krabbeln konnten, wurde kaum je ein Wort verloren.
    Eines jener Mädchen war aus dem wirbelnden Strom gerettet worden und kam dann später zu uns, um herauszufinden, wer ihre Eltern gewesen waren. Wie Sharda und mir sollte es auch diesem Mädchen eigentlich nicht vergönnt sein zu überleben, so dass meine Großmutter sich weigerte, sie zu empfangen, und mein Vater ihr die Tür wies. Wir haben sie danach nie wieder zu Gesicht bekommen. Natürlich durfte im Haus auch nicht über sie gesprochen werden. So hatte Santji es bestimmt, und der hatte im Haus ja das absolute Sagen.
    Ich habe nie verstanden, warum die Menschen ihre Kinder wegen einer Mitgift – also wegen Geld – umbringen oder sie in eine lieblose Ehe abschieben, wenn diese Kinder doch zu eigenständigen Gelddruckmaschinen ausgebildet werden konnten, indem man sie Ingenieurinnen oder Ärztinnen oder sogar Börsenmaklerinnen werden ließ. Aber dies war keine Frage, die man mit Santji diskutieren konnte, denn der hatte die Gesetze seines Hauses längst festgelegt. Diese Gesetze beruhten auf den Traditionen in seiner Familie, denen zufolge eine Frau keinerlei Tätigkeit außerhalb ihres Haushalts verrichten durfte. Mit jedem neuen Gesetz, das er erließ, erniedrigte er meine Mutter mehr und erzwang ihr Schweigen.
    Drei Töchter … diese Zahl ließ sich nicht mehr verheimlichen, als ich eines Tages auf das im Schreibtisch meines Vaters versteckte Ergebnis einer Ultraschalluntersuchung gestoßen war. Der Fluch meiner Urgroßmutter. Die Furcht vor einer zweiten Ehefrau erstickte sämtliche Diskussionen im Keim. Aber meine Mutter hatte es noch auf eine andere Weise unglücklich getroffen: Zwei ihrer Töchter hatten überlebt, so dass ihre Schwiegermutter, die sich eine ganze Litanei an Vorwürfen und Beschimpfungen zurechtgelegt hatte, sie deswegen täglich demütigen konnte. Zwei der Kinder waren rechtzeitig abgetrieben worden, doch wo war das Dritte? Ich nahm die winzige Hand aus der Bleistiftschachtel, in der ich sie verwahrte, um sie zu streicheln. Ihre feste Entschlossenheit, nicht zu Staub und Erde zu zerfallen, erschien mir wie ein Omen für mein eigenes Schicksal.
    Wie war mein bisheriges Leben verlaufen? Ich stellte mir mich selbst vor – ein winziges Baby, noch nicht einmal dazu fähig zu saugen, dem man Opium verabreichte. Ich bin dadurch vermutlich in einen tiefen Schlaf gesunken, und sie hielten mich für tot. Erst, als sie sich daranmachten, mich zu vergraben, ließ mein plötzlicher Schrei Amla davonrennen, weil sie glaubte, ich wäre ein Geist. Ich kann die Erde, die auf mich geschüttet wurde, immer noch spüren. Manchmal fallen mir in einem bösen Traum Erdklumpen ins Gesicht; ganze Hände voll davon werden mir in den Mund gestopft und in die Augen gerieben. Aus Angst zu ersticken, japse ich dann nach Luft und kämpfe gegen die Bettdecke an. Als Sharda noch da war, hat sie mir dann immer die Wangen gestreichelt und mich beruhigt. Dann hat sie mir die eingebildete Erde aus dem Gesicht gestrichen und mir mit ihrem Mund Atemluft eingehaucht. Indem ich dann tief ihren Sauerstoff einsog, presste sich mein zitternder Mund an ihren, saugten sich meine Lippen an den ihren fest, klammerte sich mein Körper an ihren Körper und meine Zunge an ihre Zunge. Ich lernte zu überleben, weil sie und ich wussten, dass wir uns nur die kleinen Bröckchen nehmen durften, die

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