Die Übermacht - 9
Ballsaal wie eingefroren. Dann lachte jemand bellend auf, andere schlossen sich ihm an. So grimmig dieser Augenblick auch war: Sie konnten nicht anders. Auch Sharleyan lächelte kurz. Dann zwang sie sich wieder zu einer ungerührten Miene und beugte sich ein wenig vor.
»Verstehen Sie Uns nicht falsch, Meister Dobyns!«, sagte sie mit eisiger Stimme, während das letzte Lachen verklang. »Das ist nicht zum Lachen. Hätten Sie die Aufgabe erfüllt, die der Bischof-Vollstrecker Ihnen aufgetragen hat, dann wären Menschen zu Tode gekommen , und das wussten Sie genau! Aber Wir glauben weiterhin, dass Sie sich in dunkle, gefährliche Gewässer begeben haben, ohne wahrhaftig zu verstehen, was Sie da taten. Wir glauben, dass Sie aufgrund Ihres Handelns das Urteil verdienen, das über Sie verhängt wurde. Aber durch Ihren Tod würde nichts erreicht, nichts geheilt – es hätte keinen anderen Effekt, als dass Ihnen keine Gelegenheit mehr bliebe, aus Ihren Fehlern zu lernen.«
Sharleyan lehnte sich zurück und schaute die vier Angeklagten noch einmal der Reihe nach an. Dann richtete sie den Blick auf die wartenden, atemlosen Zuschauer.
»Es ist die Pflicht eines jeden Monarchen, das Urteil über die Schuldigen zu sprechen, das Strafmaß zu verkünden und dafür zu sorgen, dass die gerechte Strafe auch vollzogen wird«, sagte Sharleyan mit klarer, deutlicher Stimme. »Doch zugleich ist es auch die Pflicht eines jeden Monarchen, bei der Verhängung des Strafmaßes Mitgefühl walten zu lassen und zu erkennen, wann Milde ebenso dem Gemeinwohl dient wie Strenge. Wir kommen zu dem Schluss, dass Sie alle – selbst Sie, Meister Dobyns! – Ihre Missetaten begangen haben, weil Sie alle aufrichtig geglaubt haben, das sei es, was Gott von Ihnen verlange. Weiterhin sind Wir der Ansicht, dass keiner von Ihnen aus Ehrgeiz oder kalter Berechnung gehandelt hat, und auch nicht aus Machthunger. Ja, Sie haben Straftaten begangen, aber Sie haben sie aus Vaterlandsliebe begangen, aus Ihrem Glauben heraus, aus Ihrer Trauer und aus dem heraus, was Sie für Ihre Pflicht hielten. Wir können die Verbrechen, die Sie begangen haben, nicht entschuldigen. Aber Wir verstehen sehr wohl, warum Sie diese Verbrechen begangen haben.«
Sharleyan schwieg einen Moment, lächelte. Es war ein schmales Lächeln, aber doch aufrichtig.
»Wir würden gern glauben können, Sie alle seien der Ansicht, Wir verstünden das aufgrund Unserer Heiligkeit. Doch bedauerlicherweise mögen viele Begriffe angetan sein, Uns zu beschreiben, aber ›Heiligkeit‹ ist nicht darunter. Wir geben Unser Bestes, Unser Leben so zu führen, wie, so glauben Wir, Gott es von Uns verlangt. Doch müssen Wir das Bedürfnis, gottgefällig zu sein, immer wieder gegen die Pflichten und auch die praktischen Erwägungen der Krone abwägen. Manchmal jedoch gelingt es Uns, jene Pflichten und praktischen Erwägungen mit dem, was Wir als Gottes Wille ansehen, in Übereinstimmung zu bringen. Dies ist ein solcher Moment.«
Sie sah, wie sich ein Hoffnungsschimmer auf den Gesichtern der Verurteilten abzeichnete, schwach und zerbrechlich. Sie waren noch nicht in der Lage – oder nicht willens –, es bereits wirklich zu glauben.
»Wir müssen jene strafen, die Böses tun, und Wir müssen der ganzen Welt zeigen, dass Unsere Feinde nicht straflos ausgehen«, fuhr Sharleyan fort. »Aber Wir müssen auch beweisen – ich muss beweisen –, dass Wir nicht ebensolche geistlosen Sklaven der Rache sind wie diejenigen, die derzeit Mutter Kirche in ihrem Würgegriff halten. Wo Wir Gnade walten lassen können, werden Wir das auch tun. Nicht, weil Wir eine Heilige wären, sondern weil es das Richtige ist. Uns ist bewusst, dass Wir Unsere Feinde mit der gerechten Strafe vernichten können. Zugleich aber ist Uns auch bewusst, dass Wir nur mit Gnade und Milde Freunde gewinnen können. Wir sind der Überzeugung, dass Sie alle, die Sie hier vor mir stehen, eher dazu angetan sind, Unsere Freunde und Untertanen zu sein als Unsere Feinde. Und Wir wünschen herauszufinden, ob Wir mit dieser Überzeugung Recht haben. Und so wandeln Wir das Strafmaß um. Wir begnadigen Sie. Gehen Sie nach Hause und leben Sie Ihr Leben! Aber verstehen Sie Uns nicht falsch: Sollte einer von Ihnen jemals wieder vor Uns erscheinen, schuldig befunden anderer Vergehen, dann wird es beim zweiten Mal keine Gnade mehr geben!« Kurz wurde der Blick aus den braunen Augen der Kaiserin wieder hart und unerbittlich. Ganz kurz. »Doch Wir denken nicht,
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