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Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out

Titel: Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natsuo Kirino
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wäre sie nicht von dieser Welt.
    »Hilf mir, hörst du... hol den Arzt, ja?«
    »Vergiss es, halt’s Maul!«
    Als sie das gehört hatte, griff die Frau mit ungeheurer Kraft nach seiner blutverschmierten Hand und versuchte, sie an ihren Hals zu legen. Damit wollte sie ihm zu verstehen geben, dass er sie so schnell wie möglich töten sollte. Satake strich ihr mit der blutigen Hand übers Haar. »Noch nicht.«
    Als er sah, wie sich der Ausdruck tiefer Verzweiflung in ihre Augen grub, zog sich sein Herz vor Mitleid und Freude zusammen. Noch nicht. Stirb noch nicht. Komm mit mir zusammen... Als er die Frau an sich drückte, glitschte sein Körper in ihrem Blut.
     
    Satake wachte auf. Sein Körper war blutverschmiert. Nein, das war kein Blut, nur sehr viel Schweiß. Er blickte um sich: Der Scheckbetrüger neben ihm lag angespannt auf seiner Pritsche und versuchte so zu tun, als ob er schliefe. Satake kümmerte sich nicht um ihn und wälzte sich im Dunkeln hin und her; schließlich setzte
er sich auf. Er war erregt, weil er zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder von der Frau geträumt hatte. Geisterte ihre Seele nicht noch irgendwo hier herum? Satake starrte in das Dunkel der Zellenecke. Er wollte die Frau wiedersehen.

3
    An einem Tag im Winter vor vier Jahren war Anna zum ersten Mal in ihrem Leben in einen Wagen der Japan Railways gestiegen.
    Es ging auf den Abend zu, und der S-Bahn-Waggon war brechend voll. Anna war nicht daran gewöhnt und kam sich in der dicht gedrängten Menschenmenge wie ein Fremdkörper vor. Ständig stieß sie an Schultern und Gepäckstücke anderer Leute und wurde schließlich in die Mitte des Wagens gedrückt. Irgendwie schaffte sie es, eine der Halteschlaufen zu fassen zu bekommen, und sah aus dem Fenster: Die feuerrote Wintersonne würde jeden Moment untergehen. Im Kontrast zu ihrem Leuchten warfen Bahnhöfe und Gebäude dunkle Schatten und flogen in rasender Geschwindigkeit aus Annas Blickfeld, ohne sich zu einem Bild zusammenzufügen. Ob sie den Bahnhof erkennen würde, an dem sie aussteigen musste? Ob sie dort überhaupt aus dem Wagen herauskäme? Nervös und verwirrt blickte Anna sich immer wieder zur Wagentür um.
    Da drang plötzlich von überall her Shanghai-Chinesisch auf sie ein, wie vom Boden aufsteigender Dunst an einem Sommermorgen nach einem Regenschauer. Ganz in der Nähe mussten irgendwo Landsleute von ihr sein! Erleichtert ließ Anna ihren Blick über die Gesichter der Leute streifen und spitzte die Ohren – bis sie feststellen musste, dass es sich um Japanisch handelte.
    Japanisch und Shanghai-Chinesisch hörten sich ähnlich an. Im Augenblick, als sie das bemerkte, befiel Anna plötzlich ein überwältigendes Gefühl der Verlassenheit, allein in einem fremden Land zu sein. Obwohl sich die Gesichtszüge glichen und die Sprachen ähnlich klangen, war sie unterwegs in eine Welt, in der sie kein Mensch kannte.
    Als sie wieder aus dem Fenster sah, war die Sonne untergegangen, und es wurde dunkel. Im Fensterglas spiegelte sich ein Mädchen mit verkniffenen Augen, das in einem altmodischen Mantel
steckte. Beim unvermuteten Anblick ihres eigenen Spiegelbilds wurde Anna plötzlich von so bodenloser Einsamkeit erfasst, dass ihr fast die Sinne schwanden. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie war damals gerade neunzehn Jahre alt.
    Natürlich hatte sie das reiche Japan auch vorher schon eingeschüchtert. Ebenso wenig war ihr die hilflose Verlorenheit unbekannt, im geschäftigen Treiben dieser fremden Großstadt alleine zu sein. Die beiden Gefühle stiegen immer wieder wechselseitig oder gleichzeitig in ihr hoch und stürzten sie jedes Mal in tiefe Unsicherheit. Aber so gottverlassen wie an jenem Tag war sie sich in ihrem ganzen Leben noch nicht vorgekommen.
    Wenn sie nach Japan gekommen wäre, um irgendetwas zu lernen, zu studieren oder zu forschen – dafür hätte sie gerne alle Schwierigkeiten und Anstrengungen in Kauf genommen. Aber ihr einziges Ziel hier war es, Geld zu verdienen. Und ihre einzigen Mittel dazu waren ihre Jugend und ihre Schönheit. Sie war leichten Herzens hergekommen, auf Anraten eines Mittelsmanns, der in Shanghai junge Mädchen anwarb und ihr bedeutet hatte, dass man als Chinesin in Japan so viel Geld machen könne, wie man wolle. Aber die Leichtigkeit, mit der das ging, deprimierte die in Wahrheit kluge und ernsthafte Anna. Sie war immer eine gute Schülerin gewesen und hatte sogar vorgehabt, die Universität zu besuchen, doch nun verdiente sie bequemes Geld

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