Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
die sie irgendwann einmal in einer Zeitschrift gesehen hatte: Ein schwarzer, sumpfiger See, der still zwischen einsamen Gipfeln lag. Auf seinem dicht mit Schilf überwucherten Grund unter dem trüben, stockenden, eiskalten Wasser schien ein mysteriöses Lebewesen zu hausen. Niemand würde je von seiner Existenz erfahren, denn hier würde nie jemand schwimmen oder Boot fahren. Nachts wäre nur noch ein klaffendes Loch im Boden zu sehen, mit schwarzem Wasser gefüllt, das alles Sternenlicht schluckte. Vielleicht bevorzugt dieser Satake so auffällige Kleidung, um die Leute von dem Sumpf in seinem Inneren abzulenken, ging es Anna durch den Kopf.
Sie schaute auf seine Hände. Kein Schmuck, keinerlei Spuren von körperlicher Betätigung – für einen Mann waren sie ausgesprochen wohlproportioniert. Schöne Hände. Anna konnte Satake überhaupt nicht einordnen. Da er so gar nicht wie jemand
aussah, der rechtschaffener Arbeit nachging, vermutete sie, dass er vielleicht zu Yakuza-Kreisen gehörte, die ihr bisher nur vom Hörensagen bekannt waren. Das machte sie neugierig, aber zugleich auch ängstlich.
»Du bist also Anna-chan«, sagte Satake nur, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und schaute ihr lange ins Gesicht. Über den Sümpfen in seinen Augen schien sich kein Lüftchen zu regen. Obwohl sie ihm direkt gegenübersaß, konnte sie keinen bestimmten Ausdruck darin erkennen, weder bewundernde Anerkennung noch Enttäuschung. Aber seine Stimme hatte angenehm ruhig und sanft geklungen, sie hätte ihr gerne noch länger zugehört.
Da bemerkte Anna die Zigarette und griff nach dem Feuerzeug, um sie ihm anzuzünden, wie man es ihr im Club beigebracht hatte. Wie unaufmerksam von ihr, er musste ja einen schönen Eindruck bekommen haben! Sie wurde nervös, und das Feuerzeug glitt ihr durch die Finger und wäre fast heruntergefallen. Satake sah das, und der Ausdruck in seinem Gesicht wurde weich.
»Na, na, nicht so hastig, das macht doch nichts!«
»Entschuldigen Sie bitte.«
»Wie alt bist du? Zwanzig ungefähr?«
»Ja, genau.« Es war erst einen Monat her, dass Anna in Japan ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte.
»Hast du das Kleid da selbst ausgesucht?«
»Nein.« Anna schüttelte den Kopf. Sie trug ein knallrotes, billiges Kleid, das ihr eine Kollegin überlassen hatte, die im selben Mietshaus wohnte. »Ich habe es von jemandem geschenkt bekommen.«
»Das dachte ich mir. Die Größe stimmt nicht ganz.«
»Dann kaufen Sie mir doch eins«, traute Anna sich noch nicht zu sagen. Sie war verlegen und lächelte ihn nur unbeholfen an. Nicht im Traum hätte sie damit gerechnet, dass Satake sich im Geiste schon damit vergnügte, sie wie eine Anziehpuppe aus Papier in allerlei Kleider zu stecken und sich auszumalen, wie sie wohl darin aussähe.
»Ich weiß nicht recht, was mir stehen würde.«
»Du kannst alles tragen.«
Es gab kindische Gäste, die sofort ausplapperten, was ihnen durch den Kopf ging, doch selbst die junge, unerfahrene Anna
wusste, dass Satake nicht zu dieser Sorte gehörte. Nach einer längeren Pause fragte Satake schließlich, während er seine Zigarette ausdrückte: »Du hast mich angesehen. Was, glaubst du, mache ich?«
»Sind Sie Angestellter?«
»Nein«, antwortete Satake ernst und schüttelte den Kopf.
»Dann sind Sie vielleicht ein Yakuza?«
Nun musste Satake zum ersten Mal ein wenig lachen. Sie sah seine großen, gesunden Zähne. »Ich bin zwar gewiss ein Gauner, aber kein Yakuza. Ich bin Zuhälter.«
»Zu-häl-ter? Was bedeutet Zu-häl-ter?«
Satake zog einen teuer aussehenden Kugelschreiber aus seiner Brusttasche und schrieb die Schriftzeichen für »Zuhälter« klein auf eine Papierserviette. Anna las und runzelte die Stirn.
»Das ist jemand, der Frauen verkauft.«
»An wen?«
»An Männer, die die Frauen haben wollen.«
Er war also ein Mann, der Prostituierte vermittelte. Überrumpelt von Satakes offenen Worten, schwieg Anna. Da fragte er sie mit Blick auf ihre Finger, in denen sie noch die Papierserviette hielt: »Magst du Männer, Anna-chan?«
Anna legte den Kopf schief. »Wenn sie nett sind, ja.«
»Was heißt denn für dich nett?«
»Tony Leung zum Beispiel. Das ist ein Schauspieler aus Hongkong.«
»Möchtest du, dass ich dich an ihn verkaufe, wenn er dich haben will?«
»Ja, aber mich wird er ganz bestimmt nicht wollen, dazu bin ich nicht schön genug«, antwortete Anna nachdenklich, aber Satake widersprach sofort.
»Ach was, unter den Frauen, denen ich
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