Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
Nummer.
»Ja bitte, bei Yamamoto?«, meldete sich Yayoi mit leicht affektierter Stimme.
»Ich bin’s.«
»Ach, Masako-san! Lange nichts von dir gehört!«
»Ist bei dir irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen?«
»Nein, gar nicht. Die Kinder sind im Hort, und ich lebe in den Tag hinein und lasse es mir gut gehen, oder wie man so sagt. Alles in Ordnung.« Im Gegensatz zu der angespannten Masako hörte sich Yayoi betont unbekümmert an. »Wieso fragst du?«
»Ich wollte nur sichergehen. Wenn nichts passiert ist, bin ich beruhigt.«
»Ich habe mich übrigens entschlossen, noch in diesem Jahr zu meinen Eltern zu ziehen.«
»Umso besser!«
»Und wie geht es euch? Gut? Was macht die Meisterin?«
»Sie war schon länger nicht in der Fabrik.«
»Was? Das ist aber merkwürdig. Und Kuniko?«
»Kuniko ist tot.«
Yayoi stieß einen kurzen Schrei aus und verstummte. Masako wartete ab. Endlich machte Yayoi den Mund wieder auf und benutzte das bewusste Wort: »Ist sie ermordet worden?«
»Wieso glaubst du das?«
»Ich weiß auch nicht. Ich dachte nur irgendwie.«
Sie machte ihr etwas vor.Yayoi war doch etwas zugestoßen, das spürte Masako. »Kuniko ist jedenfalls gestorben.«
»Wann?«
»Weiß ich nicht.«
»Woran ist sie gestorben?«
»Weiß ich nicht. Ich hab nur ihre Leiche gesehen.« Von dem grässlichen, breiten Würgemal um Kunikos Hals verriet Masako nichts.
»Du hast wirklich ihre Leiche gesehen?«Yayoi klang verzweifelt.
»Ja.«
»Was hat das nur alles zu bedeuten, Masako, weißt du das?«, fragte Yayoi hastig, fast schon panisch. »Hör doch, Masako, was hat das zu bedeuten?«
»Sieht ganz so aus, als hätten wir ein schreckliches Ungeheuer geweckt.«
»Hat dieser Mann sie ermordet?« Wieder gebrauchte sie dieses Wort. Außerdem schien sie sofort zu wissen, um wen es ging, als Masako von Ungeheuer sprach. Das erhärtete den Verdacht, dass Yayoi Satake schon begegnet war.
»Dieser Mann, sagst du? Kennst du ihn denn?«
Yayoi schwieg. Im Hintergrund war das Geplärre von irgendeinem Boulevardmagazin im Fernsehen zu hören.
»Nun sag schon, wenn etwas sein sollte, hörst du? Wir sind alle in Lebensgefahr, begreifst du das denn nicht! Heraus mit der Sprache!« Vor Ungeduld war ihre Stimme laut angeschwollen und hallte im Wageninneren nach. Während Yayoi hartnäckig weiterschwieg, starrte Masako fuchsteufelswild auf den von Zigarettenstummeln überquellenden Aschenbecher.
Endlich antwortete Yayoi: »Es ist aber nichts.«
»Gut, wie du willst. Pass in Zukunft auf dich selbst auf!«
»Masako-san«, fragte Yayoi atemlos, wie um Masakos Worte zu überdecken, »denkst du, dass das alles meine Schuld ist?«
»Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Nein, wirklich nicht«, antwortete Masako und legte auf. Kein einziges Mal hatte sie gedacht, Yayoi sei an allem schuld. Aber dass sie selbst schuld sein könnte, daran hatte sie sehr wohl schon gedacht. Trotzdem stand ihr jetzt der Sinn weder nach Reue noch danach, die anderen deswegen um Verzeihung zu bitten. Sie konnte nur an eines denken: dass ihr der Ausweg, der gerade erst
in Sicht gekommen war, verbaut zu werden drohte. Damit blieb ihr nichts anderes übrig, als sich dagegenzustemmen und durchzubrechen. Sie wusste, dass keine von den anderen diesen Weg mitgehen würde, selbst wenn sie ihnen von ihrem Entschluss erzählte. Und Masako wollte auch niemanden dabeihaben.
Sie starrte auf ihre sehnigen Hände, bis sie damit schließlich ihr Gesicht bedeckte, weil sie sie für die einzige Wärmequelle hielt. Sie traute nur sich selbst. Keinem anderen, nur sich selbst. Sie erinnerte sich, wie sie damals im Sommer noch einmal in die Berge zu dem Platz gefahren war, an dem Kenjis Kopf vergraben lag – an die eigene Entschlossenheit, an die eigene Einsamkeit. Inzwischen war die Luft im Wagen warm und schwer geworden. Jähe Schläfrigkeit überfiel sie. Masako schloss bei laufendem Motor die Augen.
Nach etwa einer halben Stunde wurde sie wieder wach. Nichts um sie herum hatte sich verändert, vor ihr lag nach wie vor nur der verlassene Weg zur Fabrik. Die Gräser an seinen Rändern hatte der Raureif, der jetzt morgens und abends fiel, gelb und welk werden lassen. Sogar von hier aus konnte sie den Kanaldeckel sehen, den Kazuo verschoben hatte und der nun aufklaffte wie ein geöffneter Sarkophag. Und in weniger als zehn Stunden würde Satake in Uniform und mit Unschuldsmiene diesen Weg entlanggehen.
Der Bahnhofsvorplatz von Higashi-Yamato war so öde wie immer,
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