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Die Un-Heilige Schrift

Die Un-Heilige Schrift

Titel: Die Un-Heilige Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmuth Santler
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werdet ihr in das Königreich eingehen.“
    Mitunter wird dem Thomasevangelium Frauenfeindlichkeit vorgeworfen; Schuld daran ist Logion 114, in dem Jesus auf Anwürfe gegen seine Jüngerinnen reagiert:
    Simon Petrus sagte zu ihnen: „Mariham (Maria Magdalena) soll von uns gehen. Denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig!“
Jesus erwiderte: „Siehe, ich werde sie ziehen, damit ich sie männlich mache, damit auch sie zu einem lebendigen Geist werden, der euch Männern gleicht. Denn jede Frau, wenn sie sich männlich machen wird, wird in das Königreich der Himmel eingehen.“
    Während Simon Petrus sich hier tatsächlich als fanatischer Frauenhasser outet, erklärt Jesus, dass die Erlösung für alle möglich ist; Geschlechtsunterschiede sollen nicht trennen, sondern überwunden werden.
Jesus sprach Frauen und Männern die gleichen Chancen zu, erlöst zu werden.
    Die eigentümliche Wortwahl – „jede Frau, wenn sie sich männlich machen wird“ – ist aus dem zeitlichen Zusammenhang zu verstehen: Simon Petrus' Aussage ist wohl repräsentativ für das vorherrschende Frauenbild in einer durch und durch patriarchalischen Gesellschaft zu sehen. Um seine Jünger nicht vollends vor den Kopf zu stoßen, muss Jesus seine gänzlich andere Sicht in einer aus dem Kontext heraus verständlichen Weise formulieren; mit Vergleich auf den zuvor zitierten Spruch 22 darf der Weisheitslehrer Jesus von dem Verdacht, die Frauen als bis zur Männlichkeit besserungsfähige Untermenschen zu betrachten, sicher freigesprochen werden.
Jesus wollte, dass Geschlechtsunterschiede überwunden werden.
    Wobei das Geschlecht für Jesus in keiner Hinsicht eine entscheidende Rolle gespielt zu haben scheint; Logion 79 lässt sich jedenfalls als eine Hochschätzung von Keuschheit (im Sinne spirituell erhellender Askese) lesen, denn anders lässt sich Jungfräulichkeit schwerlich erhalten:
    Es sagte zu ihm eine Frau aus der Menge: „Selig der Mutterleib, der dich getragen hat, und die Brüste, die dich ernährt haben.“ Er sagte zu ihr: „Selig, die das Wort des Vaters in Wahrheit gehört haben. Denn es werden Tage kommen, dass ihr sagt: ,Selig der Mutterleib, der nicht empfangen hat, und die Brüste, die keine Milch gaben.‘“
    Das Thomasevangelium enthält auch etliche schwer bis gar nicht verständliche – und deshalb nahezu beliebig interpretierbare – Elemente:
    (Logion 105): Jesus sagte: „Wer den Vater und die Mutter kennen wird, er wird ,Sohn der Hure‘ genannt werden.“
    Hurensohn Jesus? Manche fassen diesen Spruch als Hinweis auf die Jesus von jüdischer Seite bzw. vom römischen Philosophen Celsus unterstellte uneheliche Abkunft vom Soldaten Panthera auf.
    Gewöhnlich als leibfeindlich – die hohe Wertschätzung, die der Armut und Einfachheit in Jesus Zeiten entgegengebracht wurde, ist bereits mehrfach erwähnt worden – wird folgender Spruch aufgefasst:
    (Logion 80): Jesus sagte: „Wer die Welt erkannt hat, hat den Leib gefunden. Wer aber den Leib gefunden hat, dessen ist die Welt nicht würdig.“
    Ein esoterischer, womöglich sogar bewusst rätselhaft gehaltener Text wird mit fast 2000 Jahren Abstand leider nicht leichter verständlich …
    Kirche wird nicht gebraucht
    Das schlimmste Vergehen aus der Sicht der Institution Kirche begeht das Thomasevangelium damit, diese nicht einmal der Erwähnung wert zu finden. Nach dem Verständnis dieses apokryphen Textes ist der Mensch selbst göttlichen Ursprungs, jedoch unwissend, und kann daher durch das Verständnis einer esoterischen Weisheitslehre zur erlösenden Erkenntnis gelangen – indem er Gott in sich und auf Erden findet. Der Spruch, der dies am besten illustriert, diente dem Film „Stigmata“ als Aufhänger:
    (Logion 77): Jesus sagte: „Ich bin das Licht, das über allen ist. Ich bin das All; das All ist aus mir herausgekommen. Und das All ist zu mir gelangt. Spaltet ein Stück Holz, ich bin da. Hebt den Stein auf und ihr werdet mich dort finden.“
    Das Heil, die (Selbst-)Erlösung, ist also bereits immer und überall gegenwärtig, man muss es nur noch wahrzunehmen imstande sein. Was trotz der Allgegenwart nicht einfach ist: „(…) das Königreich des Vaters ist ausgebreitet über die Erde, und die Menschen sehen es nicht.“
    Von einer Institution Kirche oder einem Gemeindebegriff ist nirgends die Rede – jeder ist für sich selbst und das Erreichen oder Nicht-Erreichen eines höheren spirituellen Zieles verantwortlich. Auch spricht das Thomasevangelium mit

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