Die Un-Heilige Schrift
Liebe gedeutet, Philia, die Freundesliebe auf der Basis von Respekt und Verständnis, und Agape, die selbstlose Liebe, die das Wohl des anderen im Auge hat (auch als „Feindesliebe“ verstanden). Stoika, der vierte Begriff in diesem Zusammenhang, beschreibt die Interessenliebe und sei hier nur der Vollständigkeit halber angeführt.
Im antiken philosophischen Verständnis wurde die geistig-seelische Verbindung als höchste, ideale Form der Liebe angesehen, die erotische Liebe wurde aber nicht gering geschätzt, sondern als Erkenntnisweg verstanden: Von der Liebe zu einem schönen Menschen konnte man durch die Erotik letztlich zur Erkenntnis der Schönheit an sich gelangen.
Jesus predigte Nächstenliebe – und Feindesliebe. Und er war der Sinnlichkeit nicht abhold: Eros, Philia und Agape. Ein umfassendes und in seiner gelebten Geschlechtsneutralität revolutionäres Verständnis, wie es von einem Mann mit visionärem Weitblick auch nicht anders zu erwarten gewesen war.
Damit soll die Ketzerbibel von Nag Hammadi geschlossen werden. Der Fund in Ägypten hat noch etliche weitere Texte hervorgebracht, die der Beachtung wert wären, jedoch würde eine selbst kurze Beschäftigung mit jeder einzelnen der annähernd 50 unterschiedlichen Schriften den Rahmen dieses Buches deutlich sprengen. Es ist an der Zeit, sich einer Gruppe von apokryphen Schriften zuzuwenden, die seit jeher bekannt sind und das Christentum zum Teil weitaus mehr beeinflusst haben, als es der Bibel jemals möglich war: den Bestsellern der Antike.
Bestseller der Antike
Abseits theologischer Dispute und Streitereien um die Göttlichkeit Jesu und um Wesensgleichheit oder Wesensähnlichkeit entwickelte sich unter den Laienchristen eine lebendige Volksfrömmigkeit, die im Glauben an den Erlöser ihren Frieden fand. Dennoch waren manche Punkte ungeklärt und verlangten nach Hintergrundinformation; und auch reine Erzählfreude führte dazu, dass Geschichten entstanden, die offensichtlich strittige Aussagen in der Bibel auf ihre Art erklärten oder Lücken in den Evangelien füllten.
Wie gingen ewige Jungfräulichkeit der Gottesmutter und Jesu Geschwister zusammen?
Das kirchliche Dogma behauptete etwa, Maria wäre Zeit ihres Lebens eine Jungfrau geblieben – andererseits habe Jesus aber leibliche Brüder und Schwestern gehabt. Die Gemeinde war offenbar durchaus gewillt, die Jungfrauengeburt des Herrn zu akzeptieren; aber gleich eine ganze Familie? Das verlangte nach einer Erklärung, und ein findiger Schriftsteller erkannte auch, welche in den Evangelien unterrepräsentierte Figur er mit dieser Geschichte würdigen könnte: Mutter Maria.
Zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt, um die zweite Hälfte des 2. Jhs., entstand zumindest im Kern ein Text, der der Verherrlichung der Mutter Gottes dienen sollte und deshalb noch vor der Geburt Marias ansetzt – und mit der Geburt Jesu endet. „Im Kern“ bedeutet, dass Brüche im Erzählfluss darauf hindeuten, dass der Text über die Jahre gewachsen ist und sich verändert hat.
Das Protevangelium des Jakobus
Erich Weidinger sagt über die Bedeutung dieses apokryphen Textes:
Das Protevangelium des Jakobus genoss im Osten schon immer hohes Ansehen; im Westen wurde es zwar verurteilt und nie als kanonisch angesehen, trotzdem hatte es große Bedeutung für die dogmengeschichtliche Entwicklung im Katholizismus. (Weidinger, S. 136)
Im Folgenden der leicht gekürzte Text des Protevangeliums, nach den Übersetzungen von Willker (Universität Bremen) und Schneemelcher.
Geburt Marias – Offenbarung des Jakobus
1 In den Geschichten der zwölf Stämme Israels war Joachim sehr reich. Er brachte seine Opfergaben doppelt dar, denn er sagte sich: „Mein Überfluss soll dem ganzen Volk nützen, dem Herrn aber sei was des Herrn ist zu meiner Vergebung.“
Da nahte der große Tag des Herrn und die Söhne Israels brachten ihre Gaben dar. Ruben aber hielt ihn auf und sagte: „Es ist dir untersagt, deine Gaben als Erster zu überreichen, denn du bist in Israel ohne Nachkommen geblieben.“
Joachim wurde sehr traurig und ging zum Zwölfstämmeregister des Volkes, um dort nachzusehen, ob er allein keine Nachkommen in Israel hervorgebracht habe.
Seine Nachforschungen ergaben, dass alle Gerechten Nachkommen in Israel gezeugt hatten. Er erinnerte sich des Patriarchen Abraham, dem Gott der Herr in seinen letzten Tagen einen Sohn gegeben hatte, den Isaak.
Joachim trauerte und anstatt nach Hause zu seiner Frau zu gehen begab
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