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Die Un-Heilige Schrift

Die Un-Heilige Schrift

Titel: Die Un-Heilige Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmuth Santler
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zusammen.)
    Öffentliche Aufmerksamkeit erhielt die zweite Apokalypse des Jakobus indes fast ausschließlich durch folgenden Textabschnitt, zitiert nach Lüdemann:
    „Deinetwegen“ (sagt Jesus zu Jakobus) „wird man Erbarmen haben mit jedem, dessen man sich erbarmen wird. Denn du hast dich als Erster bekleidet, und du bist auch der Erste, der sich ausziehen wird. Du wirst wieder werden, wie du warst, bevor du dich ausgezogen hast.“
Und er küsste meinen Mund, umarmte mich und sagte: „Mein Geliebter, siehe, ich werde dir Dinge offenbaren, die selbst den Archonten unbekannt sind. Weil ich ein Vater bin, habe ich nicht Macht über alle Dinge?
Siehe, ich werde dir offenbaren alle Dinge, mein Geliebter. Begreife und erkenne sie, damit du dich aus diesem Körper befreien kannst wie ich. Nun aber strecke deine Hände aus und umarme mich!“
Sogleich streckte ich meine Hände aus, und ich fand ihn nicht so, wie ich ihn erwartet hatte. Danach sprach er: „Verstehe und umarme mich!“ Darauf verstand ich und ich fürchtete mich. Und zugleich verspürte ich eine große Freude. (…)
Ich habe gesehen, dass er nackt war, und es gab kein Gewand, das ihn kleidete. Das, was er will, geschieht ihm.
    Das klingt nun auf den ersten Blick eindeutig homophil; allerdings ist bei der Interpretation alter, verstümmelter und mehrfach übersetzter Texte Vorsicht geboten, wie schon mehrfach betont wurde. Bei der geschilderten Kussszene zwischen Jesus und Maria Magdalena im Philippusevangelium wurde schon darauf hingewiesen, wie durch Küssen „geistige Nahrung“ gegeben und empfangen wurde (S. 152). Es handelte sich offenbar um eine zutiefst spirituelle Begegnung, bei der der Leib als Mittler fungierte. In heutiger Lesart drängt sich allerdings noch ein weiterer Gedanke auf bei der Vorstellung zweier Lippenpaare, die miteinander verschmelzen – besonders wenn die daran beteiligten Körper unbekleidet sind. Wenn wir also die Schrift beim Wort nehmen, stellt sich die Frage nach dem Vorhandensein von
    Spiritualität und Erotik

    Johannes gilt als der "Jünger, den Jesus lieb hatte". Der Schrift nach ist dies aber keineswegs eindeutig.
    Ob dieses spirituelle Küssen auch eine erotische Komponente hatte? Gab es eine urchristliche, sinnesfrohe Tantra-Variante der jungen, vorgeblich dem Martyrium und der Askese huldigenden Religion? Im Fall einiger seiner Jüngerinnen scheint viel dafür zu sprechen; doch auch die homoerotische Begegnung, wenn es denn eine war, steht in der zweiten Apokalypse des Jakobus nicht allein da. Immerhin gibt es im Johannesevangelium mehrere Hinweise. So heißt es beim letzten Abendmahl (Joh 13,23): „Es war aber einer unter seinen Jüngern, den Jesus lieb hatte, der lag bei Tisch an der Brust Jesu.“
    Dieser so seltsam anonyme Jünger, der sich an den Körper seines Herrn schmiegt, taucht noch mehrmals auf:
    Joh 19,25: Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. 26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! 27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
    In Folge hören wir noch dreimal vom „Jünger, den Jesus lieb hatte". In einem Fall wird erneut darauf hingewiesen, dass er „an seiner Brust gelegen“ hatte. Der Knabe hat keinen Namen und keine über Edelstatisterie oder Stichwortgeber hinausgehende Funktion in der Evangelienhandlung – er ist einfach da und Jesus hat ihn lieb; das dafür aber mehr als ausgiebig: Fünf Erwähnungen in einem Evangelium sind wahrlich nicht ohne. Bloß: Wenn er daran eindeutig zu identifizieren sein soll, muss dieses „Liebhaben“ als einziges Erkennungsmerkmal schon etwas ganz Besonderes gewesen sein und sich von der allumfassenden, geistigen Liebe, die Jesus der Welt zuteil werden ließ, unterschieden haben. Allzu viele Interpretationsmöglichkeiten bleiben da nicht mehr offen: Mit diesem Jünger erlebte Jesus eindeutig eine Intimität, die er mit keinem anderen seiner (männlichen) Anhänger teilte. Oder handelt es sich bei all dem lediglich um Wunschdenken des Evangelisten?
    Hatte Jesus Johannes lieb?
    In der christlichen Tradition wird der anonyme „Jünger, den Jesus lieb hatte“ allerdings doch identifiziert, und zwar als Johannes selbst. Dafür gibt es jedoch keinen eindeutigen Beleg: In Joh 19,35 steht eine

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