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Die Un-Heilige Schrift

Die Un-Heilige Schrift

Titel: Die Un-Heilige Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmuth Santler
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heute anhaltenden Siegeszug. Gregor hatte offenbar ins Schwarze getroffen: In seiner unendlichen Güte vergibt der Herr selbst einer Hure; aus diesem Gedanken erwuchs die Hoffnung, dass keine Sünde zu schwer, kein Vergehen zu schrecklich sei, um durch ehrliche Reue und Buße nicht vergeben werden zu können.
    Maria Magdalena war zu einem Topos geworden: einem feststehenden Bild für die unbegrenzte Gnade des Herrn. Dass damit die letzte mögliche weibliche Identifikationsfigur der Bibel zugleich der gesellschaftlichen Ächtung ausgesetzt wurde, war ein „Preis“, den Gregor offenbar zu zahlen gewillt war …
    Die legendäre Maria
    So einfach ging das freilich nicht vonstatten; immerhin trat das von Gregor neu geschaffene Bild der Sündenheiligen gegen das der Apostola apostolorum an, das zu diesem Zeitpunkt bereits 400 Jahre Wirkungsgeschichte hinter sich hatte. Spätestens seit dem Jahr 720 ist das Fest der Maria Magdalena am 22. Juli belegt. Das gesamte Mittelalter hindurch wurde Maria als eine der größten Heiligen verehrt; trotz der ihr zugeschriebenen ruhmlosen Vergangenheit war sie, wie im Heiligenlexikon angeführt, die Patronin der Frauen, reuigen Sünderinnen und Verführten; der Kinder, die schwer gehen lernen; der Schüler und Studenten, der Gefangenen; der Handschuhmacher, Wollweber, der Kammmacher, Friseure, Salbenmischer, Bleigießer, Parfüm- und Puderhersteller, Winzer, Weinhändler und Böttcher. Und, keinesfalls zu vergessen und sogar an vorderster Stelle, der Prostituierten. Als 1224 der Orden „Poenitentes sorores Beatae Mariae Magdalenae“ („Reuige Schwestern der Seligen Maria Magdalena“) oder kurz Magdalenerinnen, der älteste Frauenorden Deutschlands, gegründet wurde, war es das erklärte Ziel der Klosterschwestern, ehemaligen Prostituierten einen Ausweg und eine neue Heimat zu bieten. In den ersten drei Dekaden wurde das ausgesprochen strikt gehandhabt; erst ab Mitte des 13. Jahrhunderts wurde es auch unbescholtenen Frauen gestattet, in den Orden einzutreten.

    Maria Magdalena im Boot nach Marseilles
    In diese Zeit fällt auch der Höhepunkt der Legendenbildung um die verführerische Gefährtin Jesu; in der berühmten Legenda aurea sanctorum (Goldene Legende der Heiligen) des Jacobus de Voragine, dem erfolgreichsten Buch des gesamten Spätmittelalters, wird die Geschichte erzählt, wie Maria Magdalena, die berühmteste, reichste und schönste Frau Jerusalems, Johannes den Täufer ehelichen will. Jesus tritt allerdings dazwischen und befiehlt Johannes, sein Jünger zu werden, was dieser auch befolgt. Maria verfällt in tiefe Depressionen, die sie mit möglichst vielen Männern im Bett zu vertreiben versucht. Das bringt natürlich nichts, außer Jesu Aufmerksamkeit zu erwecken, der nicht das Glück des Johannes mit dem Unglück der Maria eintauschen will und die Frau zur Besinnung bringt; Maria wird in der Folge sogar die meistgeliebte Jüngerin.
    Nach Christi Himmelfahrt ist Jesu Anhängerschaft jüdischer Verfolgung ausgesetzt. Maria und andere werden in ein führerloses Boot gesetzt, kommen aber nicht um, sondern landen in Marseilles (ein wichtiges Detail, zu dem später noch mehr zu sagen sein wird). 

    Das glückliche Königspaar konvertiert zum Christentum.
    Maria erscheint dem regierenden Königspaar im Schlaf, wird aufgenommen und beginnt zu missionieren. Nach einer Reise, bei der die Königin und ihr Neugeborenes durch ein Magdalenenwunder vor dem Tod bewahrt werden, sind auch die Herrschenden überzeugt und konvertieren zum Christentum.
     
    Die büßende Magdalena. Wie die beiden oberen Abbildungen stammt auch diese Illustration aus dem Missali-Manuskript (Brügge, 1475–76), einer der zahllosen Ausgaben der Legenda aurea sanctorum.
    Maria Magdalena zieht sich in die Wildnis zurück und verbringt den Rest ihres Lebens, immerhin 30 Jahre, ohne Nahrung, weil sie bei sieben Himmelsfahrten täglich mit Speise aus Engelshand versorgt wird.
    Wie gut diese Ernährung anschlug, lässt sich an den zahllosen Abbildungen der büßenden Maria bestens erkennen, denn zu diesem Genre gehört auch traditionell ein Mangel an Bekleidung. Im (späten) Mittelalter waren die Künstler offenbar noch gottesfürchtiger oder ehrerbietiger, weshalb die Büßende – in ihrer Funktion als Sündenheilige – gerne mit einem Haarkleid am ganzen Körper oder zumindest bedeckt von ihren langen Haaren dargestellt wurde. Spätestens im Barock, in dem Status durch Besitz und insbesondere Kleidung

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