Die Un-Heilige Schrift
entstandene MM setzt die Haare, die doch eigentlich bedecken sollen, geschickt zur Hervorhebung der anrüchigen Details ein. Das erste Nipplegate der Neuzeit.
Weitere weibliche Namen fallen nicht; dafür hatte die einschlägige Tendenz der Kanonisierer bereits Sorge getragen, angefangen mit der Auswahl derer, die sich dazu überhaupt äußern durften – Lukas, der frauenverleugnende Evangelist, und Paulus, der wiederholt die Männer über die Frauen gestellt hatte. Nur zur Illustration, wie das Umschreiben der Geschichte aussehen konnte, hier der Abschnitt der Kreuzigungsszene, in dem es um die Zeugen geht. Bei Markus und Matthäus ist von Maria Magdalena, weiteren namentlich genannten und vielen ungenannten Frauen die Rede, bei Johannes sind die drei Marias plus der Lieblingsjünger anwesend. Lukas widmet dieser wichtigen Begebenheit, in der sich die ehrliche Loyalität zu Jesus widerspiegelt, einen Satz: „Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.“
So einfach und doch raffiniert: die Frauen werden anonymisiert und zugleich zu etwas Ungewöhnlichem, die Männer hingegen, die es mit Ausnahme des Lieblingsjüngers nur bei Lukas überhaupt gibt, erscheinen als das Normale, das Maß der Dinge. Und Lukas lügt nicht einmal offen – durch die Verwendung des geschlechtsneutralen (und seltsam distanzierten) Begriffes „Bekannte“ sagt er nicht direkt, dass Männer gemeint sind, das wird erst durch das kleine „auch“ vor den Frauen nahegelegt. Einheitsübersetzung und Lutherbibel sind sich in diesem Punkt übrigens vollkommen einig.
Die salbende Sünderin
Eine derart spitzfindige Textauslegung war freilich kaum geeignet, um dem einfachen Volk das Göttinnen-Bild von Maria Magdalena auszutreiben. Dazu bedurfte es einer weit gröberen Keule, und der Mann, der sie entscheidend schwang, war Papst Gregor der Große (590–604). Ausgehend von der damaligen Auffassung, dass jeder dumm sei, der die Bibel so versteht, wie sie geschrieben ist, und sich echte Gelehrtheit im Erfassen der hinter den Buchstaben verborgenen „wirklichen“ Wahrheit zeigt, bog Gregor Maria Magdalena zur Sünderin und Büßerin zurecht. Dies war zwar Ephraim dem Syrer bereits 200 Jahre früher eingefallen, dank Gregor wurde aber jetzt aus einer Idee dogmatische „Wahrheit“.
Eine MM-Ikone mit dem klassischen Attribut, dem Gefäß mit Salböl. Das erst durch die von Papst Gregor dem Großen vorgenommene Interpretationsfälschung den Weg an Jesu lebendige Füße fand.
Er musste dafür aus der namenlosen Prostituierten, die im Lukasevangelium Jesus’ Füße beweint und salbt, und aus Maria Magdalena ein und dieselbe Person machen. (Maria von Bethanien, die zweite biblische Salberin und Haartrocknerin, wurde gewissermaßen in einem Aufwaschen auch gleich mit Maria Magdalena gleichgesetzt.) Sein wichtigstes Argument waren die Dämonen, die aus MM ausgetrieben worden waren; er deutete sie als Sünden, die Jesus ihr vergeben hatte. Im Israel der Zeitenwende wurde der Begriff „Dämonen“ allerdings für faktisch jede Art von Krankheit verwendet, sofern sie unerklärlich war, eingeschlossen Infektionen und geistige Störungen. Maria Magdalena war eine extrem schwer erkrankte Frau gewesen – die Zahl „Sieben“ sollte hier weniger nummerisch, als vielmehr im Sinne von „vollkommen, umfassend“ verstanden werden – und Jesus hatte sie geheilt. Über ihren Lebenswandel vor ihrer Begegnung mit ihm erfahren wir aus der Bibel nichts; der ihr zugeschriebene Wohlstand kann aus jeder Quelle stammen. Wie wir gesehen haben, war es für eine moderne jüdische Frau in Galiläa absolut möglich, auf gesellschaftlich akzeptierte Weise zu eigenem Vermögen zu kommen. Sicher hat sie Jesus nicht gesalbt, solange er unter den Lebenden weilte, sie hatte ja nur beabsichtigt, den Leichnam mit duftenden Ölen einzureiben, was sich durch das Osterwunder erübrigte.
Gregors Umdeutung war frei erfunden, was seit einiger Zeit auch wieder offizielle katholische Lehrmeinung ist. Allerdings ist der 1969 erfolgte Widerruf so still erfolgt, dass die wenigsten ihn vernommen haben.
Obwohl es für die Interpretation Gregors keinen Beleg gab und sogar die katholische Kirche diese Ansichten, die von den orthodoxen Ostkirchen nie mitgetragen wurden, für irrig erklärte (ca. 1340 Jahre später), war das Bild der Sünderin und Büßerin geprägt worden und begann seinen unaufhaltsamen, bis
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