Die Un-Heilige Schrift
überhaupt erst möglich wurde, fallen die letzten Hüllen. Maria wird in ihrer Nacktheit vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, in dem Kleider buchstäblich Leute machen und alles Natürliche, Ungezähmte oder Unverhüllte als abstoßend empfunden wurde, zum Nichts. Die Sündenheilige, an der man sich aufrichten und ein Beispiel nehmen konnte, wird ebenso massiv zurückgedrängt wie die dritte gängige Magdalenendarstellung, in der sie als Personifikation weiblicher Heiligkeit auftritt, und weicht der erotischen Sünderin. Sie büßt für ihre körperlichen Begierden, und ein Teil der Buße besteht darin, dass sie – die ehemalige Prostituierte – vor aller Welt zur Schau gestellt wird.
Vor aller Welt zur Schau gestellt: MM, Lefebvre 1876
Diese Funktion Maria Magdalenas hat sich damals durchgesetzt und bis heute behauptet – wenn irgendwo erotische Weiblichkeit und sexuelles Verlangen das Thema sind, ist die Liebste Jesu Christi nicht weit. Ob sie jetzt „I Don´t Know How to Love Him“ im Rockmusical „Jesus Christ Superstar“ haucht, zur „Letzten Versuchung Christi“ wird oder als Projektionsfläche für sexuelle Besessenheit wie in Ken Russells „The Devils“ herhalten muss – Magdalena ist die große Verführerin. In Friedrich Hebbels Drama „Maria Magdalena“, Uraufführung 1846, erreichte sie so etwas wie den Tiefpunkt ihrer Karriere – das zuvor in Berlin abgelehnte und in Wien von der Zensur verbotene Stück zeigt eine unverheiratet schwangere Heldin, der als einziger „Ausweg“ die Selbst- und damit Kindstötung bleibt. Der Heldin wird alles genommen: Sie ist keine aktiv Verführende, sondern ein reines Opfer, und weder Reue noch Buße verhelfen zur Erlösung von ihrer „Schuld“, missbraucht worden zu sein. Sie wurde ihrer Selbstbestimmung, ihrer weiblichen Identität und zuletzt ihrer Menschenwürde beraubt; es bleibt ihr nichts.
„Maria Magdalena“ dient bei all dem ausschließlich als kürzestmögliche Beschreibung der bestehenden gesellschaftlichen Zwangslage und kommt in Hebbels Stück nur als Titel vor; die unglückselige Heldin trägt den Namen Klara.
Mischgestalt Maria Magdalena
Das Beispiel der schmachtenden, von ihrem Gewissen, ihrem Verlangen und ihren Zweifeln gepeinigten Mary in „Jesus Christ Superstar“ markiert den Übergang zu einem modernen MM-Image. Im Lauf der Jahrhunderte war Maria Magdalena immer für etwas Bestimmtes gestanden – jetzt wurden alle Typen zugleich möglich und ihr Status insgesamt aufgewertet.
Die Mary von Superstar Jesus Christ ist extrem sexy und glaubt, als Professionelle alles über Männer und „Liebe“ zu wissen – bis sie durch Jesus die geistigen, seelischen und spirituellen Seiten der Liebe kennenlernt und ihre bisher allzu eindimensional körperliche Sichtweise hinter sich lassen muss. Sie steht für Sinnlichkeit, zeigt aber ebenso Reue; sie ist bei allen Zweifeln eine selbstbewusste Frau, hat sie doch ihr Leben stets im Griff gehabt und gesellschaftliche Konventionen bewusst missachtet. Sie personifiziert also die Aspekte Erotik und Gleichberechtigung, steht im Mittelpunkt des Geschehens (Apostola apostolorum) und führt zusätzlich an die Anfänge zurück, ins gnostische Christentum. Sie ist keine Heilige, sondern ein durch und durch menschlicher und greifbarer Charakter, dem Geist der 60er-Jahre entsprechend auf der Suche nach spirituellen Antworten.
Die nächsten Jahre erlebten einen Trend zum Materiellen und Pragmatischen sowie eine zunehmende (Wieder-) Herstellung der Rechte der Frau und gleichzeitig einen Esoterik-Boom, der sich das entstandene spirituelle Vakuum zunutze machte; großteils mit ausgesprochen unspirituellen, dafür aber sehr lukrativen Ergebnissen. Die globale Kommerzialisierung von allem und jedem machte ganz besonders vor dem Körper der Frau nicht halt – sex sells. In Verbindung mit immer lauter werdender Kritik an der (katholischen) Kirche im Allgemeinen und deren absurd sexualfeindlicher Einstellung im Besonderen war alles in allem der Boden bereitet für verkaufsträchtige, mysteriös-esoterische Verschwörungsszenarien, in denen Maria Magdalena die weibliche Hauptrolle zugesprochen wurde.
Die Rede ist natürlich von Dan Browns
Sakrileg – The Da Vinci Code
In diesem Weltbestseller, der mittlerweile unter dem Originalbuchtitel „The Da Vinci Code“ auch zu Filmehren gekommen ist, ist Magdalena die Hohepriesterin eines Kults der Großen Göttin und trägt auf ihrer Flucht nach der
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