Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Himmel schaut. Ob sein Mund offen oder geschlossen ist, lässt sich nicht mehr sagen. In seinen stark entstellten Gesichtszügen liest man trotz allem noch einen Ausdruck von … ich würde sagen: Entzücken; aber auch von Ruhe und (du wirst lachen) von Frömmigkeit . Wenn man sich überlegt, wie die letzten Augenblicke für ihn gewesen sein müssen, kommt man bei diesem Ausdruck schon ins Grübeln. Vielleicht liegt es aber auch nur am entstellten Gesicht .
Beim Anblick seines Vaters muss ich an die neuen Gemälde denken, die du mir beschrieben hast und für die New York, die aufgebrachte Milliardärin, angeblich so schwärmt: Man muss ihn sich eine Zeitlang betrachten, um herauszufinden, wo sich der Kopf befindet, wo die Hände, wo die Füße. Dann beginnt man Gefallen an der Sache zu finden und sucht nach den Ohren, der Nase, den zwei Löchern der Augäpfel (ich habe gemogelt: ich habe nach ihnen getastet) . Ehrlich gesagt sieht dieser Leichnam nach gar nichts mehr aus . Vielleicht nach einem Stück Holz, einem verkohlten Baumstamm . Aus ihm wird sich nicht mehr viel machen lassen, so groß meine Kunst auch sein mag. In seinen Pelz gemummt, wurde das gute Stück wie Grillfleisch gebraten. Man weiß übrigens nicht, weshalb er eingeschnürt ist wie eine Salami. Vermutlich wusste er es im Augenblick des Todes selbst nicht. Wie dem auch sei, Gott sei seiner Seele gnädig. Ein kleiner Rest wird von ihr wohl übriggeblieben sein .
Ich gehe zu seinem Sohn, der interessanter ist, und beuge mich über ihn. Ich schätze ab, welche Arbeit an ihm zu tun sein wird, nicht um ihn vorzeigbar zu machen, denn selbstverständlich wird ihn niemand zu Gesicht bekommen, sondern um ihn zumindest wieder so geradezubiegen, dass er in den Sarg passt. Da wird einiges zu tun sein. Ich kneife ihm mit meiner liebevoll neckischen Ungezwungenheit in die Nase; ich rede mit beruhigender Stimme auf ihn ein: »Ende tot, alles tot.« Die Nase bleibt mir zwischen Daumen und Zeigefinger hängen … (das wird mir eine Lehre sein). Ich schaue mir seine Faust an. Mit Hilfe eines Schraubenziehers mache ich mich daran, sie zu öffnen wie eine Auster: Die Knochen geben nach, zerbröseln, und ich entdecke darin eine beinahe noch unversehrte Hasenpfote. »Unrecht Gut gedeihet nicht«, und ich bin, wie du weißt, ein ehrbarer Mann . Aber Glücksbringer bringen Pech, wenn man sie verschmäht, ganz wie die Frauen. Ich stecke die Hasenpfote in meine Tasche .
Zu diesem Zeitpunkt ahne ich nicht im Entferntesten, dass diese beiden Leichen von heute auf morgen im Viertel Berühmtheit erlangen werden. Während sie hier Seite an Seite auf meinem Tisch liegen, ganz in sich ruhend und über eine rätselhafte Komplizenschaft miteinander verbunden wie zwei Schlackenauswürfe aus demselben Vulkan, prangen sie schon in allen Zeitungen der Stadt. Sie wurden in der Nähe des Dorfes Saint-Aldor aufgefunden. Sie hatten sich im Wald verlaufen, wie vermutet wird, und sind dann, keiner weiß warum, gewiss vor Erschöpfung, in einer Hütte verbrannt,höchstwahrscheinlich ohne zu wissen, dass diese nur wenige Schritte vom freien Feld entfernt lag (ich dachte mir, dass dir die Ironie an der Sache gefallen wird). Der Neuschnee hat verhindert, dass der Brand auf den Rest des Waldes übergreifen konnte, da siehst du, was für einen lieben Gott wir haben. Der Pfarrer, der im Sterben liegen soll, hat offenbar darauf bestanden, sie in die Gemeinde zurückzuholen .
Der Clou an der ganzen Geschichte aber ist, dass ein kleines Mädchen bei ihnen war, von dem jede Spur fehlt. Die umfangreiche Suche, bei der die gesamte Bevölkerung der Gegend auf den Beinen war, hat sich bisher als vergeblich erwiesen. Einfach verschwunden! In Luft aufgelöst!
Bisher hatte man geglaubt, dass sie die Nichte von Monsieur Judith sei, dem Lyoner Würstchen, dem Gehörnten, von dem ich dir bereits erzählt habe und der hier den Bankdirektor mimt. Aber stell dir vor! In der Zwischenzeit ist die echte Nichte von Monsieur Judith bei ihm aufgetaucht, die auch tatsächlich Sarah heißt, in Begleitung ihres Vaters, den Judith für tot hielt, und ihrer Mutter, von der Judith glaubte, sie liege im Sanatorium im Sterben. All das kommt dir in meiner Schilderung sicher nicht besonders einleuchtend vor, aber so ist es nun mal, was soll ich machen. Monsieur Judith hat sich aufs Land zurückgezogen zur Zwangserholung, sein Psychiater hat den Journalisten verboten, mit ihm zu sprechen. Ich wusste, dass seine Frau keine Sekunde
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