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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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Paradieses ausmalten. Eine Gipsmadonna mit kerzengekröntem Haupt wartete auf ihre Opfergaben. Die Jungen wurden langsam ungeduldig. Sie stießen sich gegenseitig mit dem Ellbogen an und mussten ihr Lachen unterdrücken. Clémentine, die zu abgespannt war, um einzugreifen, ließ sie gewähren.
    Bradette konnte nicht stillsitzen. Er wurde überheblich, machte am laufenden Band dumme Späße; mehr als einmal hatte Clémentine sich an diesem Morgen zurückhalten müssen, um ihm nicht eine Ohrfeige zu verpassen. Auch Rocheleau machte ihr Sorgen. Er hatte heute so ängstlich gewirkt, so niedergedrückt und labiler als sonst, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Er war in der großen Pause von der Schule weggelaufen und seitdem nicht wieder aufgetaucht.
    Plötzlich erhob sich Bradette und schlenderte lässig zur Marienfigur. Mademoiselle Clément fielen fast die Augen aus dem Kopf. Er hatte eine Zigarette aus der Tasche gezogen und hielt sie an eine Kerze, um sie sich anzuzünden. Die Lehrerinnen schauten fassungslos zu Mademoiselle Clément. Clémentine sprang auf, so gut ihr das eben möglich war, und riss dem Kind die Zigarette aus der Hand.
    »Kümmern Sie sich mal ein bisschen um Ihre Schüler!«, flüsterte eine ihrer Kolleginnen spitz.
    Rot angelaufen wegen dieser Demütigung, zerrte Mademoiselle Clément den Schüler durch den Hauptgang. Hinter dem Querschiff stieß sie Bradette rücksichtslos in eine Bank. Sie setzte sich neben ihn, entschlossen, ihm beim leisesten Mucks eine Tracht Prügel zu erteilen. Der Bengel blickte sie mit seelenruhiger Überlegenheit an.
    Am Weihwasserbecken war ein Chorpult aufgestellt worden, auf dem die Nachbildung eines berühmten Madonnenbildes stand. Clémentine kannte den Maler nicht. Aber das Gesicht der Heiligen Jungfrau machte tiefen Eindruck auf sie. Alles, was den Schülern, wie auch ihr schon, über das Jesuskind erzählt wurde, über seine Einfachheit, seinen kindlichen Gehorsam, seine bewundernswerte Dienstbarkeit im Alltäglichen, Josef das Werkzeug tragen, seiner Mutter beim Backen helfen, all das schien dieses Bild zu widerlegen durch Marias schrägen, beinahe trübsinnigen Blick auf ihren Sohn, der mit durchdringender Wahrhaftigkeit zu sagen schien: »Was will er mich denn noch alles erleiden lassen?« Die Heilige Jungfrau presste die Lippen zusammen, als wären sie von Gottes Hand zugenäht, während Jesus, von sich selbst eingenommen, schon als Baby der ganzen Welt eine Lektion erteilen wollte, ohne seiner Mutter die geringste Beachtung zu schenken.
    Clémentine Clément schloss die Augen. Arme Maria. Seit Jahrhunderten wurde sie unablässig gefeiert, in den höchsten Tönen verehrt, und blieb doch die große Vergessene der Evangelien. Mariä Verkündigung, ihre Tränen vor dem Kreuz: eine Handvoll Staub, weiter nichts. Trotz ihrer übernatürlichen Befruchtung hatte die Hand des Vaters ihr, soweit man wusste, die gerade sehr sinnlichen Schmerzen der Niederkunft nicht erspart. Hatte sie das schreckliche Ende vorausgeahnt, das ihrem Sohn beschieden sein sollte? Die Nägel, die seine Gebeine durchbohren würden, die letzte Demütigung …? Das musste eine fröhliche Niederkunft sein, mit diesem ganzen Wissen, und obendrein in einem Stall. Wer weiß, was sie ihm zuflüsterte, wenn sie ihm die Brust gab, wenn sie ihm so nah war, dass selbst Gott nicht hören konnte, was sie sagte. Vielleicht flehte sie ihn an. Sich nicht einzumischen in die Angelegenheiten der Welt, seine Netze nicht weiter auszuwerfen als in den bescheidenen Grenzen, die das Leben als Sohn eines Zimmermanns ihm gewährte. Ihm aber genügte ein Blick aus seinen erschreckend verständigen Augen, um sie zum Schweigen zu bringen. Auf ihren Lippen zeichnete sich ein Lächeln von unendlicher Traurigkeit ab. Während er mit geschlossenen Lidern friedlich an dem Fleisch gewordenen Fläschchen weiternuckelte.
    Aber vielleicht wusste sie es gerade nicht. Dann hätte Gott sich verrechnet. Maria glaubte schlicht und einfach, was sie in ihrem Traum gehört hatte, dass ihr Sohn zu einem außergewöhnlichen Schicksal berufen war, und sie besänftigte sich mit süßen Gedanken, drückte ihn fester an ihre Brust und sagte sich immer wieder, dass er eines Tages ein großer Herrscher sein würde, überhäuft von wertvollen Stoffen und Steinen, der sein Volk führen würde wie Moses.
    Und er wurde älter und größer und ein bewundernswert schöner Jüngling. Seine Anmut hätte ausgereicht, um ihn in ganz

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