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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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aber ihre Augen sind immer noch, wie du sie so meisterlich auf dem Heiligenbild verewigt hast, noch ebenso blau und durchdringend. Sie schien nervös, ein wenig beschämt über ihren Aufzug, was begreiflich ist: Ihr Rock ist so oft gestopft worden, dass er durchpflügt ist wie eine Eisenbahnfahrkarte; um den Hals trägt sie einen fleckigen Fuchsschwanz, steif wie drei Tage alte Socken. Ich musste an ihre Jugend denken, an ihre Karriereträume, erinnerst du dich? Tourneen, Ovationen, Blumensträuße, die von kleinen Mädchen auf die Bühne gelegt werden, herzzerreißende Abschiedsszenen mit russischen Prinzen in allen Hauptstädten Europas … Ich habe sie gefragt, was sie nach so vielen Jahren wieder in die Gemeinde geführt hat. Sie drehte ihren Fuchs um eine Viertelumdrehung, wie um sich den Kopf festzuschrauben. Sie hat kürzlich ihren Mann verloren, und dann auch ihren Sohn. Nichts hatte sie zur Rückkehr gedrängt, allerhöchstens ihr Verdruss. Wir drehen und drehen uns im Kreis, Rogatien, wir versuchen uns an den Rändern abzulenken, aber irgendwann rutschen wir angezogen, eingesogen von der Tiefe wieder in dasselbe Loch, wie Kugeln in einem Trichter. Aber was erzähle ich das einem Morphiumsüchtigen .
    Sie ist natürlich nicht meiner schönen Augen wegen zu Besuch gekommen. Sie hatte eine Nachricht für dich dabei. Es scheint, du hast ein Treffen mit ihr vereinbart …? Das kannst du getrost vergessen, mein Lieber. Ich soll dir ausrichten, dass sie die Briefe, die du ihr geschrieben hast, in die Gosse geworfen hat .
    Nimm’s nicht zu schwer, Rogatien. Wir alle haben in einem tiefen Winkel unseres Lebens jemanden, der uns ohne Erklärung öffentlich ohrfeigen würde und vor dem wir dennoch schamvoll zu Boden blicken würden. Da geht es allen gleich .
    R. Costade
    Kleinunternehmer
    P.S.: Wie steht es eigentlich mit deinem Roman? Wenn ich deinen letzten Brief richtig verstanden habe, kommt unsere teure Justine Vilbroquais auch darin vor. Vor dem Hintergrund deines »Schwurs« wäre doch »Kundgabe an Justine« ein schöner Titel!
    Du könntest dir als Termin den 22. Dezember setzen, ihren Geburtstag; ich bin mir sicher, sie würde sich freuen .
    * * *
    Clémentine Clément, der schon am Morgen schlecht gewesen war und die zu Mittag nur ein wenig Bouillon herunterbekommen hatte, wurde erneut von Schwindel gepackt. Sie musste sich mit der Hand am Betstuhl abstützen.
    Die Schüler der École Langevin saßen auf den Bänken im linken Kirchenschiff. Die rechte Seite war für die Mädchen der École Marie-Reine-des-Coeurs reserviert. Ihre Kolleginnen, Mademoiselle Robillard und Madame Désilets, zündeten Kerzen an, während Mademoiselle Baril und Mademoiselle Pichette hinter ihnen knieten und den Rosenkranz beteten. Alles für Guillubarts Seelenfrieden, Clémentine wusste das, aber sie wollte keine Kerzen für Guillubarts Seelenfrieden anzünden. Sie hatte sich inzwischen ihre Meinung über derlei Getue und Gehabe gebildet, ihre Kolleginnen mochten denken, was sie wollten, sie hatte sich geschworen, dass sie nicht mehr darauf hereinfallen wollte.
    Der neue Vikar, der nervös im Chorumgang umging, war nach Cadorettes Herzanfall in die Gemeinde beordert worden. Der kleine Priester war erst vor kurzem geweiht worden, errötete leicht, wenn die Rede auf Frauen kam, und zitterte vor Verlangen, alles richtig zu machen, allerdings noch ohne jene herrische Chuzpe, die neunzig Prozent eines Pfarrers ausmacht.Clémentine sah ihn teilnahmslos an. Er hatte immer noch die geröteten Augen eines gewissenhaften, von Träumen gepeinigten Seminaristen, für den alles eine Prüfung ist und der nicht immer begreift, was Sein Heiland eigentlich genau von ihm erwartet. Aus Angst, nicht nach dem auszusehen, was er war, trug er einen Bartwirbel, der wie eine Cedille seine Unterlippe zierte. Mit gesenktem Kopf lief er auf und ab und nestelte dabei an seinem Kruzifix. Seine Unruhe fiel der Lehrerin auf die Nerven. Am liebsten hätte sie ihn am Messgewand gepackt, geohrfeigt und gezwungen, sich hinzusetzen. Sie wandte den Blick ab und streichelte sich unauffällig über den Bauch.
    Von den kleinen Engelchen war noch keine Flügelspitze zu sehen. Ihre Verspätung ließ sich wie jedes Jahr mit den umfangreichen und gewissenhaften Vorbereitungen erklären, die für das Fest der Unbefleckten Empfängnis erforderlich waren, Papiersträuße, Heiligenscheine aus Pappe, Kerzen und Konfetti, ganz so, wie sich Nonnen und Lehrkräfte die Freuden des

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