Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
von seiner Seite weichen würde, weniger um ihm Beistand zu leisten, sondern um selbst etwas zu haben, woran sie sich klammern kann, denn der Zustand ihres Mannes schürt Ängste in ihr, und wenn sie Angst hat – ich kenne sie, will sagen: in jeder Hinsicht –, dann ist ihr Gatte ihre einzige Zuflucht. Ich habe Blumen schicken lassen mit den besten Wünschen zur Genesung .
Die Fantasie der Leute war natürlich entfacht. Du weißt, wie sie hier in Hochelaga sind. Klopfgeister sind die Spezialität des Viertels . Scharenweise streiften sie um die Häuser der Opfer. Jeder hatte seine Version der Geschichte zum Besten zu geben. Die Nachbarn wollten wiederholt durch die Wände ein Klopfen gehört und vor den Fenstern leuchtende Kugeln gesehen haben, die zerbarsten und abscheuliche Gerüche absonderten. Jüngsten Gerüchten zufolge war der alte Mann seit ewigen Zeiten tot, und sein bauchrednerischer Sohn hat jahrelang mit der sterblichen Hülle des Alten gelebt. So in der Art. Die Leute erzählen, was sie wollen. Die Kinder bedrängen ihre Eltern, mit ihnen das Spukhaus zu besuchen .
Am dreistesten war der Sohn des Schusters, der in das Haus eingestiegen ist, vielleicht weil er erwartet hat, ein Lehrbuch der Weißen Magie zu finden. Die Polizei musste einen Posten vor dem Haus aufstellen . Nun behauptet der Junge aber, in der Wohnung einen Wandschrank mit einem Vorhängeschloss gesehen zu haben – was da wohl drin sein mochte? Die Journalisten haben die Sache gleich aufgegriffen, die inzwischen als die Geschichte von dem Wandschrank mit Vorhängeschloss bekannt ist. Die Polizei verweigert jede Stellungnahme; sie wird den Schrank an Ort und Stelle öffnen .
Das alles nur, um dir zu zeigen, wie klein die Welt ist, denn die beiden wohnten, musst du wissen, im Haus deiner Kindheit, in der Rue Moreau Nº 1909 .
Ich habe die ganze Nacht an diesem Brief geschrieben, lieber Rogatien, es dämmert schon, und die beiden Leichen sind fertig, sie liegen links und rechts der Bögen, die du gerade liest; in ein paar Stunden geht es zur Kirche. Ich lege mich jetzt ein wenig schlafen, denn ich erwarte einen aufregenden Tag. Seit gestern liegt es in der Luft, eine gewittergeladene Atmosphäre, die das Viertel wie ein Wellblechdach zum Beben bringt. Denn an diesem Dienstagabend, dem 8. Dezember, dem Fest der Unbefleckten Empfängnis, wird unter der Überdachung zwischen Polizeistelle und Feuerwache der Brandstifter des Grill aux Alouettes hingerichtet. Da wird es heiß hergehen. Es gab bereits letzten Donnerstag einen Krawall in der Spinnerei Hudon . Eine Gruppe Arbeiter, die gegen die Hinrichtung sind, hatte sich mit einer anderen angelegt, die auf Rache besteht und vom Bruder dieses Blanchot angeführt wird (das ist der, dem ich dein Heiligenbild verkauft habe und der in den Flammen umgekommen ist, weißt du?). Es kam zu Handgreiflichkeiten, und es ging einiges Material zu Bruch. Die Polizei musste einschreiten .
Auf jeden Fall werde am Ende wie immer ich als der Gewinner dastehen, denn der Brandstifter wird heute Abend hier auf diesem Tisch landen, auf dem ich jetzt meinen Brief beende. Ich habe übrigens den ganzen Raum neu machen lassen, alles hochmodern, das solltest du sehen. Das Ganze soll eine Art Einweihung werden . Weiß der Henker, ob ein Gehenkter dafür das Richtige ist … So, nun ist aber Schluss .
[Einige Stunden später, vor dem Weg zur Stätte der Hinrichtung.] Ich lege dir die Zeitung unseres Viertels bei, um die du mich gebeten hast (ich vermute, für deinen Roman), sie ist noch druckfrisch. Auf der ersten Seite findest du die Anzeige: WER ZOG DAS SIEGERLOS DES KLEINEN MAURICE? Dazu folgende Erklärung: Für den Waisen des Feuerwehrmanns ist eine Lotterie veranstaltet worden; das Siegerlos wurde letzten Freitag gezogen, aber der Besitzer hat sich immer noch nicht gemeldet; sie geben ihm eine letzte Chance, bis morgen. So, jetzt weißt du alles .
Ach, das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen. Justine Vilbroquais – deine »Schwester«, wie du sie nennst – hat mich letztens in meinem Büro besucht! Wir hatten seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander gesprochen. Ohne jede Begrüßung schleuderte sie mir entgegen: »Würdest du mir bitte erklären, was in diesen alten Irren gefahren ist, mir nach fünfundzwanzig Jahren einen Brief zu schreiben?« (Meine Mitteilung, dass sie wieder im Viertel ist, scheint bei dir nicht auf taube Ohren gestoßen zu sein, lieber Rogatien.) Sie ist nicht mehr jung, versteht sich,
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