Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
einem Bestattungsinstitut. Außerdem stand eine mit Bleistift geschriebene Adresse darauf, mit Datum und Uhrzeit, wie für eine Verabredung. Remouald erkannte, dass es die Adresse der Witwe Racicot war. Sie war die Krankenpflegerin, die sich jeden Tag um seinen Vater kümmerte. Dieser Zufall machte ihn stutzig. Er steckte das Blatt in die Tasche, nahm sich vor, über das Rätsel nachzudenken, und ging in Richtung Bank von dannen.
Der Schuldirektor stand am Fenster seines Büros, die Lehrerin an seiner Seite. Sie beobachteten Remouald, bis er den Hof verlassen hatte.
»Ich bin mir sicher, er ist es«, sagte Clémentine.
Der Feuerwehrhauptmann stand hinter der Mauer der Wäscherei versteckt. Er wartete, bis Remouald in die Rue Saint-Germain eingebogen war. Dann zündete er sich eine Zigarre an und heftete sich an seine Fersen.
* * *
Die Kunden und Angestellten verfolgten durch das Fenster den Leichenzug, von dem nur noch die letzten Gestalten zu sehen waren. Remouald konnte unbemerkt durch die Seitentür eintreten. Sein Schreibtisch war schmal und für ihn zu niedrig, doch schaute er auf eine Wand, was es ihm ersparte, die Grimassen seiner Kollegen erwidern zu müssen, denn in der Bank musste jeder jeden jederzeit anlächeln, so war es vorgeschrieben. Monsieur Judith, der Direktor, beugte sich über seine Schulter.
»Monsieur Tremblay, könnten Sie heute Vormittag bei mir im Büro vorbeischauen? Sobald Sie einen Moment Luft haben.«
Remouald schluckte. Es war die Art des Direktors, die schlimmsten Dinge auf sehr förmliche Weise mitzuteilen. Er hatte an diesem Vormittag nicht viel zu tun, brauchte aber eine halbe Stunde, bis er den Mut fand, seinem Vorgesetzten gegenüberzutreten. Bei jeder Vorladung in Judiths Büro rechnete er damit, einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Er war sich sicher, dass ihm seine Verspätung vorgehalten würde. Er klopfte an die Glastür, fast ohne sie zu berühren.
»Immer herein, mein Lieber! Ich diktiere nur eben diesen Brief zu Ende. Setzen Sie sich doch!«
Remouald ließ sich am Fenster nieder. Der Stuhl wirkte unter ihm wie ein Puppenstuhl. Seine Statur, die seine Hagerkeit nochhervorhob, war ihm eine ständige Last (weshalb er sich nur in seiner Küche wohlfühlte, die er nach seinen Maßen eingerichtet hatte). Ohne zuzuhören vernahm er die Sätze, die der Direktor seiner Sekretärin mit lieblicher Stimme in Verwaltungssprache diktierte. Durch das Fenster betrachtete er den Himmel, den Kirchturm, und versuchte, an nichts zu denken.
Das kleine Mädchen musterte ihn. Er hatte sie nicht sofort bemerkt. Sie saß eingesunken in einem Sessel mit geschwungenen Formen. Von ihrem Gesicht sah man nur die schwarzen, brunnentiefen Augen, die zwischen Trauer und Verwunderung wechselten und alles andere verblassen ließen. Sie lächelte nicht. Ihre mit Wollsocken bekleideten Füße ragten kaum über die Sitzkante hinaus; sie rieben sich aneinander wie zwei spielende Kätzchen.
»Kommen Sie doch etwas näher, Monsieur Tremblay. Und du auch, Sarah. Los, komm her, mein Kind …«
Folgsam setzte sich Remouald Monsieur Judith gegenüber. Sarah dagegen machte keine Anstalten, aus dem Sessel aufzustehen. Sie starrte die beiden unverwandt an.
Monsieur Judith, der durch und durch Franzose war und keine Gelegenheit versäumte, dies zu betonen, litt an chronischem Ohrenjucken. Es gehörte zu seinen Angewohnheiten, sich bei Gesprächen auf die Armlehne seines Stuhls zu stützen und sich den kleinen Finger ins Ohr zu stecken. Gute Fünfzig, äußerst gewandt im Reden, und eine singende Stimme, salbungsvoll wie die eines Laienbruders.
»Sie müssen sie entschuldigen, mein Lieber, Sarah ist sehr schüchtern. Aber Sie werden sehen, sie ist ein sehr anhängliches Kind, sehr sensibel. Sie ist die Tochter meiner Nichte, also, die Tochter einer meiner Nichten, wie auch immer. Nun ist es so, dass ihre Mutter diese Woche ins Krankenhausgekommen ist. Und ich fürchte, dass sie eine ganze Weile in ärztlicher Obhut wird bleiben müssen, die Ärmste. (Er hielt sich die Hand vor, als wolle er am Kind vorbeisprechen, und flüsterte:) Tuberkulose.«
»Das ist traurig«, sagte Remouald vorsichtig.
Monsieur Judith rollte mit seinen vor Mitleid weit geöffneten Augen.
»Sarahs Mutter hatte es nicht leicht. Dass kann Ich Ihnen sagen …! Letztes Jahr erlag ihr Mann einem Herzanfall. Ich habe erst heute morgen davon erfahren, als ich ihren Brief gelesen habe. Mutter und Vater hat sie auch nicht mehr. Auch wenn
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