Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
ihm wusste man nie. Man konnte ihn für verschlossen halten, für vollkommen verstockt, und eine Sekunde später huschte etwas durch seinen Blick … Monsieur Judith streckte den Bauch vor, öffnete die Hände und sprach mit herzlicher Missbilligung:
»Nun hören Sie mal, mein guter Tremblay, geben Sie ruhig zu, dass Sie im Moment nicht viel zu tun haben. Ich weiß, dass meine Bitte vielleicht etwas ungewöhnlich klingt, aber dennoch! Es ist ein Freundschaftsdienst, um den ich Sie bitte: Sind wir nach fünfzehn Jahren nicht etwa Freunde geworden?«
Remouald zuckte schüchtern die Schultern:
»Tja …«
»Seien wir offen, Remouald. Sie verbringen den halben Tag mit Däumchendrehen – nein, nein! Sagen Sie jetzt nichts: Wir lassen das einfach mal so dahingestellt. Heute morgen zum Beispiel. Sie sind zu spät gekommen. Wissen Sie, ich verstehe das, es war sicher wegen Ihres Vaters, er braucht seine Pflege … Aber beweist das nicht, dass Sie Ihre Stundenzahl verringern könnten, ohne Ihrer Arbeitsleistung Abbruch zu tun?«
Remouald wurde rot, denn wenn man seine Stundenzahl verringern konnte, konnte man auch sehr gut sein Gehalt kürzen. Monsieur Judith ahnte, dass Remouald ahnte, was das bedeutete, und fügte erbarmungslos hinzu:
»Ich weiß, woran Sie jetzt denken, und ich gebe zu, dass ich auch schon daran gedacht habe. Kümmern Sie sich um die Kleine und ich garantiere Ihnen Ihr volles Gehalt.«
Erneut wandte sich Remouald Sarah zu und meinte diesmal deutlich vernommen zu haben, wie sie ihn beim Namen gerufen hatte. Dabei hatte sie kein Wort gesagt. Sie nuckelte gleichmütig an einer Haarsträhne, die sie sich in den Mund gesteckt hatte. Ihre Haare, die ebenso schwarz wie ihre Augen waren,schienen derart fein, dass eine Berührung sich anfühlen musste, als streiche man mit der Fingerspitze über eine Kerzenflamme. Wie er sie so betrachtete, bemerkte Remouald, wie schön sie war. Schön, wie nur ein Mädchen von sieben Jahren es sein kann.
Plötzlich kam ihm die Erleuchtung.
»In die Schule …! Warum schicken Sie sie nicht in die Schule wie andere Kinder in ihrem Alter auch!«
Der Direktor wirkte verlegen. Er zog den Finger aus dem Ohr, richtete sich im Sessel auf und schlug sich die Schöße seiner Jacke über den Bauch.
»Das ist der springende Punkt, Monsieur Tremblay, das ist der springende Punkt. Sarah ist ein goldiges, in mancher Hinsicht sogar ein großartiges Kind, würde ich sagen, aber sie kann nicht wie die anderen zur Schule gehen, sie hat eine kleine Besonderheit.«
Mit fragender Miene tippte sich Remouald verschämt an die Schläfe.
Monsieur Judith zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte entschieden den Kopf: Nicht doch, was für ein Gedanke! Er atmete tief ein und sagte, als würde er eine schwere Last abwerfen:
»Wissen Sie, sie kann nicht sprechen, kein Ton kommt aus ihrem Mund, sie ist stumm. So ist das!«
Er fügte rasch hinzu, dass sie alles verstehe, was man ihr sage, dass sie lesen könne und sogar Talent für die Musik besitze.
»Geige!«, erklärte er feierlich mit erhobenem Zeigefinger. »Das stand alles in dem Brief ihrer Mutter.«
»Ich mag Musik sehr gern«, sagte Remouald verdrossen.
Er dachte an die Musik, die an manchen Feiertagen in der Kirche gespielt wurde. Monsieur Judith folgerte daraus, dass der Vorschlag angenommen war.
»Nun denn!«, sprach er und erhob sich aus dem Sessel. »Wissen Sie, man hat selten die Gelegenheit, solche Dinge zu sagen, aber ich habe Sie immer sehr gemocht, mein kleiner Remouald. Doch, doch. Kommen Sie: Geben wir uns die Hand. Sarah wird zu Mittag hier auf Sie warten. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Vielen Dank.«
Remouald rührte sich nicht.
»Ich bitte doch!«, beharrte der Direktor.
Mühsam erhob sich der Angestellte. Er ging um den Tisch herum und schlurfte zur Tür. Sarah verfolgte jede seiner Bewegungen. Plötzlich schien Monsieur Judith besorgt.
»Oh, Remouald! Eine Sache noch. Ich verstehe, in welcher schwierigen Lage Sie stecken. Ich meine, die Bewegungsunfähigkeit Ihres Vaters und all das. Wenn Sie also morgens eine halbe Stunde länger für sich haben möchten, dann steht Ihnen das frei, hm? Sie müssen mir nicht danken, es ist mir ein Vergnügen. Also dann, mein Freund. Und nochmals vielen Dank! «
Remouald senkte den Kopf und verließ das Büro.
Er machte sich auf den Weg zur Toilette, er wollte sich dem heiligen Frieden der Latrinen hingeben. Dabei kam er am Kassenschalter vorbei, an dem die Kunden
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