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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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Kälber«, verbesserte Mademoiselle Clément, die das Buch in der Hand hielt.
    Unkonzentriert sprach Rocheleau mit zögerlicher Stimme weiter:
    Die ganze Herrlichkeit zerfloss vor ihren Füßen,
    Wie schöne Träume beim Erwachen je zerfließen .
    »Wie schöne Träume beim Erwachen jäh zerfließen«, korrigierte Clémentine. »Das Wort heißt so viel wie abrupt, plötzlich.«
    Sie schrieb es an die Tafel.
    Das Kind sprach den Vers ohne Punkt und Komma in einem Atemzug zu Ende: » Die Leute aber haben lange noch gelacht und aus Perrettens Milchtopf einen Schwank gemacht. «
    »Gut«, sagte Clémentine, »gut. Du kannst dich wieder setzen. Jetzt du, Guillubart. Sag das Ende.«
    Unbeholfen erhob sich Guillubart. Seine Wangen waren kreidebleich; die schräge Haartolle glänzte über seiner Stirn wie eine fuchsrote Flamme. Er schielte zu Rocheleau, der sich abwandte. Dann schaute er mit dem bezeichnenden Blick des Schülers, der die Antwort nicht weiß, aus dem Fenster.
    »Also, Guillubart«, sagte Clémentine und begann ihrerseits bedrohlich langsam den Text aufzusagen, wobei sie jede Silbe betonte:
    Wer liebte nicht des Phantasierens holden Duft?
    Wer baute nie ein stolzes Schloss sich in die Luft?
    Sie dachte: »Was für eine dämliche Fabel«. Guillubart setzte mit stockender Stimme an:
    Herr Fuchs … angelockt … ruft seinen Witz gemäß …
    »Der Fuchs ruft also einen Witz?«, fragte die Lehrerin mit überdrüssiger Stimme. Die Klasse fing an zu lachen, aber gekünstelt und freudlos. »Außerdem bist du in der falschen Fabel.«
    Es klopfte an der Tür. Guillubart setzte sich beschämt. Und sprang sogleich mit den anderen Schülern wieder auf, als der Direktor, Bruder Gandon, die Klasse betrat. Er hieß sie wieder Platz nehmen. Erschöpft ließ sich Guillubart auf den Stuhl fallen. Er hatte Blei in den Gliedern. Es fiel ihm schwer, den Kopf aufrecht und die Augen offen zu halten. Böse kleine Wesen arbeiteten mit komplizierten Werkzeugen in seinem Kopf, verbogen mit Gartenscheren irgendwelche Drähte. Hitzemassen drückten ihm die Brust zusammen, und sein Hemd war durchnässt von Schweiß, der sauer roch wie bei seiner Schwester, als sie Scharlach hatte. Er sah, wie seine Hand sich von allein auf dem Pult umdrehte, ruckweise wie ein im Netz zuckender Fisch. Ihn schmerzten die Schläfen. Er konnte sich nicht erinnern, weshalb er vor der Lehrerin Angst hatte, er versuchte angestrengt, sich zu erinnern, was er gemacht hatte, doch seine Gedanken purzelten immer wieder zu Boden wie ein Bär, der vergeblich versucht, das Hinterteil zu heben. Und das Gesicht der Lehrerin, wie sie mit dem Direktor flüsterte, flößte ihm nur noch entferntes Unbehagen ein. Eine weiche, durchsichtige Wand hatte sich zwischen ihn und die anderen geschoben, und ihre Gesten und Gesichter blieben in diesem klebrigen Vorhang einfach hängen. Der Direktor schien sich ihm zugewandt zu haben. Was wollte er ihm mit seinem Blick sagen? Guillubart versuchte, ihm zuzulächeln, aber es gelang ihm nicht. Er schaute erneut zu Rocheleau, was ihm keinerlei Trost verschaffte, diese nervöse Nase, dieser fliehende Blick aus seinen klugen Nerzaugen machten ihm seine eigene Schwäche nur umso deutlicher. Er dachte: »Ich schlafe mit offenen Augen.« So etwas hätte er nicht für möglich gehalten.
    Der Direktor hatte eine Frage gestellt.
    »Perrette und der Milchtopf« sagte Guillubart.
    Diesmal brach die Klasse in offenes Gelächter aus. Warum hatte er das gesagt? Er hatte nicht einmal die Frage gehört. Er war sich nicht einmal sicher, dass der Direktor sich an ihn wandte! Guillubart zwinkerte verwirrt mit den Augen. Bruder Gandon lachte auch, aber mit Nachsicht.
    »Ich glaube, du warst gerade etwas zerstreut, was? Nein, meine Frage war, wem das Fest der Unbefleckten Empfängnis geweiht ist?«
    Er zeigte mit dem Finger auf Rocheleau.
    »Maria, mein Bruder? Marias Reinheit?«
    So war Rocheleau. Er gab die richtigen Antworten, setzte aber immer ein Fragezeichen dahinter. Selbst wenn er Guten Tag sagte, hatte man den Eindruck, dass er eine Frage stellte. Bruder Gandon wiederholte das Wort »Reinheit« und nickte geheimnisvoll, so als rührten sie damit an ein großes Mysterium. Er wandte sich an Bradette:
    »Und was bedeutet das, Reinheit? Nun sag du mal.«
    Bradette hatte einen hart erkämpften Ruf zu verteidigen. Er spürte, wie die Klasse den Atem anhielt: Eine richtige Antwort und seine Ehre war verloren. Wenn er richtig antwortete, dann höchstens aus

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