Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
anflehte, sich nur keine Mühe zu machen, strauchelte sie gegen die Wände stolpernd in die Küche. Dort verwüstete sie die Schränke, fiel bisweilen quer übers Kochgeschirr und fuhrwerkte höllisch herum, wobei sie sich vor ihrem fetten gutherzigen Lachen schüttelte, dass Séraphon angst und bange wurde. Dann kam sie mit einer Schale Tee auf ihrem wackeligen Tablett. Séraphon konnte ein gequältes Wimmern nicht unterdrücken (»Oh, nein! Nein!«), aber sie beruhigte ihn:
»Tu ich doch gerne, wenn ich helfen kann, M’sieu Tremblay.«
Woraufhin sie ihm die Nase in das kochend heiße Getränk tunkte. Séraphon verschluckte sich, bäumte sich auf, doch sie blieb beharrlich, und der Tee schwappte in alle Richtungen. Sie sah sich gezwungen, ihm auf den Kopf zu hauen, um ihn zu beruhigen. Sie drückte ihm mit der Faust auf dem Kinn die Kiefer auseinander und goss ihm den Tee den Rachen hinunter. Für gewöhnlich war ihr Wohltätigkeitsanfall damit beendet. Sie schickte ihn mit einer Handbewegung zum Teufel und machte sich endlich zur großen Erleichterung des Invaliden wieder griesgrämig und porterbenebelt an ihre Kombination Schaukeln-Stricken-Trinken. Séraphon jammerte und spuckte. Er fühlte sich, als hätte er mit Pfeifensaft gegurgelt. Wenn Remouald von der Arbeit kam, konnte Séraphon Stunden damit zubringen, ihm vorzuwerfen, dass er in der Bank nicht ausreichend verdiente und seinem alten Herrn nichts Besseres bieten konnte als diesen Gorilla.
Seit dem Vortag befand sich Séraphon in einem seltsamen Zustand, genaugenommen seit dem Besuch auf dem Brandgelände. Er hatte in der Nacht seltsame Sachen geträumt, und seit dem Morgen wuchs sein Unwohlsein zunehmend. Er schaute sich um, und die sonst so vertraute Umgebung seines Zimmer erschien ihm plötzlich fremd. Alles war genau, wie es schon immer gewesen war, und dennoch hatte sich etwas verändert. Es lag etwas in der Luft, wie eine anstehende Kältewelle. Seit dem Vortag hatte die Welt begonnen, ihn in ihrem Lauf nicht mehr zu berücksichtigen. So war das. Er hatte das Gefühl, sich aufzulösen, und glaubte, er habe an Schwerkraft verloren. Er schwebte zwischen den Dingen, sein Körper selbst war zueinem Ding unter Dingen geworden, herrenlos. Die Minuten zogen an ihm vorüber wie Passanten, die die anderen im Vorbeigehen nicht wahrnehmen. Séraphon zu sein hatte nicht mehr dieselbe Bedeutung, vielleicht hatte es überhaupt keine Bedeutung mehr. Er machte ein Nickerchen, und beim Erwachen schaute er die Racicot lange an, bevor er sie erkannte. Er war sich nicht sicher, mit ihr im selben Zimmer zu sein. Er sah sie, wie eine Wahrsagerin durch ihre Kristallkugel sieht. Seine Zeitung lag ausgebreitet auf seinem Schoß; er versuchte die großen Überschriften zu lesen. Die Buchstaben sperrten sich in sonderbarer Weise und gaben ihre Bedeutung nicht preis. Sie klammerten sich an der Seite fest und ballten sich steif zusammen wie die verkrampften Finger einer Leiche.
Das Unwohlsein ging vorüber, versetzte ihn aber in einen Zustand starker seelischer Erschöpfung. Sein Kopf wurde leer, seine Gedanken entflohen. Neugierig schaute er auf die Kommodenschublade. Er hatte Remouald am Morgen beim Aufwachen dabei gesehen, wie er sie zuschob. Im Folgenden bekundete Remouald eine ungewöhnliche Nervosität. Séraphon schloss daraus, dass Remouald am Vorabend tatsächlich etwas vom Grill mitgenommen und den Gegenstand in der Schublade versteckt hatte. Er war überzeugt, dass dieser Gegenstand mit der Veränderung zu tun hatte, die er in sich und um sich herum beobachtete. Handelte es sich etwa um ein verzaubertes Amulett, das seinen Verstand verwirren sollte?
Es kostete ihn große Überwindung, die Witwe zu bitten, doch er nahm all seinen Mut zusammen. Er fragte sie, ob sie wohl die Freundlichkeit besäße, die Kommodenschublade zu öffnen. Die Racicot hielt in ihrem Schaukeln inne und dachte kurz nach, ob sie gehorchen solle oder nicht. Schließlich stand sie auf und ging, während sie mit beiden Händen ihreausladende Brust zurechtrückte, zur Schublade, um sie zu öffnen. Dann kehrte sie zu ihrem Strickzeug zurück. Entmutigt lachte Séraphon auf. Er beratschlagte sich mit sich selbst, wog die Risiken ab und sagte dann so gefällig er konnte:
»Es wäre sehr schön, wenn Sie mir sagen könnten, was in der Schublade ist.«
Die Witwe musterte ihn gereizt. Séraphon lächelte gezwungen. Sie stand murrend wieder auf und zog einen Haufen Stoff aus der Schublade: Remoualds
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