Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Hemd zur Arbeit ging. Außerdem war der bettlägerige Séraphon ihr der unstrapaziöseste Kunde, und die Witwe schätzte ihre Ruhe über alles.
Der Tag zog sich und Madame Racicots Schritte wurden zunehmend schwerer. Sie kündigte ihr Kommen mit Flaschengeklirr an, die Treppenstufen klangen, als würde jemand mit einem schweren Gewicht darauf einschlagen, und gegen Ende des Nachmittags kam es nicht selten vor, dass sie beim Betreten der Behausung der Länge nach hinfiel. Obwohl Séraphon ihr mehr als einmal die demütige Bitte angetragen hatte, schloss sie beim Gehen nie die Tür ab, denn sie fand sich mit dem Schlüsselbund nicht mehr so gut zurecht, und Geduld war nicht gerade ihre größte Stärke.
Sie setzte sich in den Schaukelstuhl, stellte zu ihren Füßen eine Flasche Porter auf den Boden und holte das Strickzeug aus der Tasche. Séraphon begriff nicht, was genau sie da zusammenstricken wollte. Es sah aus wie das Netz einer Spinne, die den Verstand verloren hatte. Und die Wolle, die sie benutzte, und immer wieder benutzte, hatte sie vor mindestens zwanzig Jahren gekauft. Ja, so war die Witwe Racicot, Mutter keines lebenden Kindes.
Und Séraphon Tremblay hatte eine Heidenangst vor ihr.
Kaum war sie angekommen, beugte sie sich über ihn und fragte nuschelnd: »Wie geht’s Ihnen, Monsieur Tremblay?« Séraphon, der den Atem anhielt, war verwundert, dass jemand so viele Gerüche an sich haben konnte. Sie zog zur Gewissensberuhigung ein wenig die Decken zurecht und klopfteauf sein Kissen. Anschließend warf sie ihm – falls sie daran dachte, und sie dachte nicht immer daran – die Tageszeitung auf den Schoß.
Séraphon war zeit seines Lebens ein passionierter Zeitungsleser gewesen. Das Unglück anderer, in großen Lettern verkündet, verschaffte ihm im Allgemeinen ein jubilierendes Gefühl der Überlegenheit. Er saß wohlig in seinem Stuhl, außerhalb der Schusslinie, in Sicherheit: Zu irgendetwas ist das Leiden gut. Nachrichten von misshandelten Hunden oder verirrten Landsleuten konnten ihn zu Tränen rühren und boten ihm die Gelegenheit, sich an sich selbst zu berauschen: Für eine Weile war er in Extase, voller Ehrfurcht und Begeisterung für seine feinfühlige Sensibilität, wie das Mädchen mit den Streichhölzern angesichts der Erscheinung seiner Großmutter. Politik war ihm gleichgültig, für sportliche Leistungen hatte er nicht mehr als Verachtung übrig und die Auslandsnachrichten trugen sich auf einem anderen Planeten zu, um welchen Landstrich es sich auch immer handeln mochte. Den Rest aber verschlang er gierig. Die Rubrik Vermischtes zuallererst, eine unerschöpfliche Sammlung von Abstrusitäten, dann die Lokalnachrichten, die er mit pedantischer Sorgfalt studierte. Auch wenn die Leute im Viertel keine Erinnerung mehr an Séraphon hatten, so war doch seine Kenntnis über die Skandale eines jeden von enzyklopädischem Umfang.
Da die Augen vom Schiffbruch des restlichen Körpers ausgenommen waren, konnte Séraphon Tremblay noch die kleinsten Schriftzeichen entziffern. Er machte selbst vor Kleinanzeigen nicht Halt und nahm sie peinlich genau unter die Lupe. Leider hinderte ihn seit einigen Jahren sein Gebrechen daran, anonyme Briefe zu verschicken, doch träumte er nach wie vor davon, wenn er sich die Adressen der Todesanzeigenvornahm. Zu guter Letzt ließ er auch die Werbeanzeigen nicht aus, die ihm immer wieder die Gelegenheit boten, sich über die Preise zu entrüsten. Und angesichts der ihm beschiedenen Bildung (seine Mutter war Lehrerin gewesen), errötete er, sobald ihm ein Rechtschreibfehler ins Auge stach.
Wenn er eine Zeitungsseite ausgelesen hatte, konnte er nicht aus eigener Kraft umblättern. Er sagte nichts, er wartete ab. Wenn die Witwe Racicot es sah – »Ham’ Sie Ihre Seite zu Ende, M’sieu Tremblay?« –, antwortete er mit einem winzigen »Ja«. Manchmal passierte es ihr, dass sie dem Greis im Gewühl der Blätter eine Seite verkehrtherum auf die Decke legte, ohne es zu bemerken, denn sie war ausgemachte Analphabetin. Séraphon lächelte mitleidsvoll, wagte aber nicht, sie über ihren Irrtum aufzuklären.
Er hatte eine Heidenangst vor ihr, denn manchmal – ohne Böses zu wollen! – misshandelte sie ihn.
Sobald die Euphorie des Rausches eingesetzt hatte, stand sie auf und ließ sich unsicheren Schritts von einer Anwandlung von Großzügigkeit tragen, von einem Urverlangen, Gutes zu tun:
»Sie möchten sicher gern ein Teechen, was, M’sieu Tremblay?«
Obwohl er sie
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