Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
es noch Schlimmeres gab. Denn das Verschwinden war endlos, das Nichts eine nie endende Spirale, selbst wenn man nur noch verweste Erde war, blind und taub, nichts mehr fühlte , weniger als ein Hund, als eine Pflanze, ein Stein, so blieb doch das Flackern der Flamme: das Bewusstsein, in einem Grab zuliegen. War das die Hölle? Nichts mehr zu empfinden und doch immer noch da zu sein? Gefangen wie eine Fliege im Honig, eingeschlossen in Nacht und Tod? Die unendliche Kälte für alle Ewigkeit? »Ich will nicht gehen!«, schrie er. Die Aussicht auf den riesigen Friedhof der Côte-des-Neiges nistete sich gewaltsam in seine Gedanken ein. »Remouald!«, rief er.
Da keimte eine verzweifelte Hoffnung in ihm auf: »Wer sagt denn, dass ich in die Hölle komme?« Und als Antwort vernahm er klar und deutlich, wie tief aus seinem Herzen ein grausames Lachen aufstieg. Heftige Schauder schüttelten ihn. Er hatte panische Angst, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Erinnerungen, die das Bild bei ihm wachgerufen hatte, überschlugen sich, wurden aber gleichzeitig deutlicher, sprudelten hervor wie frische Quellen, platzten auf wie Knospen. Er fühlte sich von ihnen verfolgt und versuchte sie zu beschwichtigen: »Das konnte ich nicht wissen, dafür kann ich nichts«, beteuerte er seine Unschuld und versuchte sich selbst damit zu überzeugen. Er wich aus, indem er ältere Fehler eingestand, harmlose Fehltritte im Kindesalter, die ihn nicht teuer kamen. Es war, als versuche er, Raubtiere mit Brotrinden zu besänftigen. Blitzartig begriff er, dass er seine wahren Fehler beichten musste – Aber wo? Vor wem? –, und er sah eine Wand aus Flammen vor sich aufstieben. Séraphon wurde ohnmächtig.
Schritte im Treppenhaus, eine Tür ging auf, es war Remouald. Séraphon kam wieder zu Bewusstsein. Neben seinem Sohn stand die schwankende Witwe Racicot. Sie reckte den Hals, starrte mit furchtsamer Neugierde zu dem alten Mann und schien schließlich beruhigt. Séraphon stieß einen markerschütternden Schrei aus: »Remouald!«
Den Kopf an die Brust seines Sohnes gedrückt, brach er in Tränen aus. Remouald streichelte schweigend seindünnes, klebriges Haar, das empfindlich war wie Spinnweben. »Ich will nicht sterben …«, wimmerte Séraphon. Remouald brauchte keine weitere Erklärung.
Die Witwe Racicot hatte vor der Tür auf Remouald gewartet, allein hatte sie sich nicht hinaufgetraut: Tote waren ihr ein Graus. Aber sie wollte unbedingt die Flaschen einsammeln, die sie bei ihrem überstürzten Aufbruch vergessen hatte. Was sie auch mit ungelenken Bewegungen tat. Remouald wusste nicht, ob er ihr schon ihren Lohn gezahlt hatte. Von sich aus verlangte Madame Racicot nicht danach: Wenn man vergaß, sie zu bezahlen, vergaß sie einfach, ihre Besuche zu machen. Sie murmelte etwas, das er als »Ja« interpretierte. Schließlich zog sie von dannen und Séraphon hörte auf zu weinen. Remouald schloss die Kommodenschublade und verschwand wortlos in der Küche.
Er schaute auf die Suppe, die im Topf vor sich hin köchelte. War er nicht, als er Sarah in die Bank zurückgebracht hatte, entschlossen gewesen, auf seiner Position zu beharren? Sich nicht mehr um sie zu kümmern, weil er nun mal kein Kindermädchen war und auch nicht dafür bezahlt wurde …? Er hatte sich seinen Sermon bis aufs letzte Komma überlegt und ihn sich zwanzig Mal auswendig aufgesagt … Aber als es so weit war, hatte er geschwiegen. Lag es an Monsieur Judiths panischem Ausbruch wegen der Blutergüsse der Kleinen? An der Angst, seine Anstellung zu verlieren? Der Angst, seinem Vorgesetzten die Stirn zu bieten …? Remouald hatte vor allem Angst, er versuchte nicht, sich diesbezüglich etwas vorzulügen. Aber er war nicht feige. Was also hatte ihn gehindert zu sprechen?
Er schaltete die Lampe an und holte das Stück Papier aus der Tasche, das er am Morgen in seinem Hut gefunden hatte.Wie hatte ihm das nur in die Hände geraten können? Er betrachtete es lange. Die Adresse auf dem Zettel war zweifellos die der Witwe Racicot. Er dachte an die Geschehnisse, deren Zeuge er am Vortag auf dem Brandgelände gewesen war. Was hatte das alles zu bedeuten, was für eine Nachricht schickte man ihm da?
Das Schluchzen seines Vaters holte ihn wieder aus seinen Träumen. Wie ein Kammerdiener eilte er ins Schlafzimmer und vergaß dabei den Caribou, den er in der Hand hielt. Séraphon wusste von den schlechten Angewohnheiten seines Sohnes, aber einer stillschweigenden Vereinbarung gemäß taten
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