Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
bibeldicken Vorhängen abzudichten, und die einzigen Strahlen, die in ihren staubigen Kerker dringen durften, waren jene, die Mama vom Himmel schickte. Sie war immer da, was er auch tat, kannte selbst die flüchtigsten Gedanken, die sich in seinem kleinen Kinderherzen regten. Vor allem aber kannte sie die Liebe, die ihr Kind für sie hegte und die sie aus ihrem himmlischen Paradies, ihrem ewigen Gnadensommer, hundertfach erwiderte. Tatsächlich war ein Sohn noch nie so sehr von seiner Mutter geliebt worden, das durfte er keine Sekunde vergessen, so sehr geliebt, dass sie gestorben war, damit er leben konnte.
Rocheleau wusste, dass es leicht war, seinen Vater zu belügen, da er glaubte, sein Kind würde unter dem himmlischen Blick seiner Mutter niemals wagen zu lügen.
Dr. Rocheleau erhob sich mühsam von seinem Stuhl: Der Verdruss hatte ihn herzkrank gemacht. Er beugte sich hinab, um seinem Sohn einen andachtsvollen Kuss auf die Stirn zu drücken. Er bat ihn, auch seiner Großmutter einen Kuss zu geben. Gegen allen Anschein beharrte er darauf, dass die Arme diese Art von Zuneigung schätzte und sie auf ihre Weise durchaus noch wahrnähme. Rocheleau ging zu seiner Ahnfrau, die mit den Augen eines im Bootsbauch vergessenen Fisches vor sich hin starrte. Er setzte zaghaft die Lippen auf ihre schlaffen Wangen, die nach Gips schmeckten. Mit tonloser Stimme sagte er: »Auf Wiedersehen, Großmutter«, ohne dass diese davon Notiz nahm. Wäre ihr ein Knallfrosch vor der Nase explodiert, so hätte sie keine größere Reaktion gezeigt.
Rocheleau vergaß beim Hinausgehen seinen Ranzen, doch bestand kaum Gefahr, dass er damit das Misstrauen seines Vaters erregte. Es wurde Zeit. Er lief durch den Garten auf die Straße. Er rannte nicht wie ein Kind, das es eilig hat, er beeilte sich wie ein Getriebener.
* * *
Als Treffpunkt hatten sie die Rue Adam Ecke Dézéry vereinbart. Bradette war noch nicht da. Seit dem Vortag war es um einiges kälter geworden und es hatte geschneit. Rocheleau nestelte, während er wartete, an seinen Kapuzenbändern. Er betrachtete die Verästelungen eines Baumes im Gegenlicht des Himmels. Sie ähnelten den Querschnitten der Gehirne in den Büchern seines Vaters, die er heimlich durchblätterte.
Er dachte an Guillubart. Seitdem dieser wie in Raserei und mit verdrehten Augen im Klassenzimmer zu Boden gegangen war, bekam Rocheleau ihn nicht mehr aus dem Kopf. DerGedanke daran, dass er in eben diesem Augenblick in einem Zimmer im Krankenhaus lag, machte ihm Angst. Er wunderte sich, dass seine Klassenkameraden wie unbeteiligt über ihn sprachen. Oh, es hieß, er würde vielleicht daran sterben …! Als ihm das zu Ohren gekommen war, glaubte er, gleich in Ohnmacht zu fallen.
Zwei Zangenhände griffen ihm von hinten in die Seiten. Vor Überraschung schrie er auf.
»Nur die Ruhe, du Dummkopf! Ich bin’s.«
Rocheleau schaute mit feuerroten Wangen in das nervös vergnügte Gesicht seines Kumpanen, ohne es zu erkennen. Er schämte sich für seine heftige Reaktion.
»Ängstlich wie ein Engländer!«
Ohne große Überzeugung wandte Rocheleau ein, er habe ihn nicht kommen sehen, aber Bradette besaß die Gabe, nichts zu hören, wenn Rocheleau sich zu rechtfertigen versuchte. Er nahm die Zigarette, die ihm hinterm Ohr klemmte. Sie war ganz verknickt. Er schnipste mit den Fingern, damit Rocheleau ihm Feuer gab. Rocheleau tat, als suche er in seinen Taschen, musste aber gestehen, dass er keins dabei hatte. Sein Kamerad seufzte schwer.
»Muss ich mich denn um alles kümmern? Ich hatte dir doch gesagt, du sollst immer Feuer dabei haben.«
Bradette faltete sein Streichholzbriefchen auf. Die Flamme hob sich gleich zwei gefalteten Händen empor, und er nahm einen langen, erfahrenen, lustvollen Zug. Dann zog er seinen Rotz bis zu den Mandeln hoch und spuckte ihn zu Boden, wo er im Schnee versank.
Rocheleau sah ihn ehrfürchtig an.
Beim Spucken machte Bradette niemand etwas vor. Und wie gut er im Rauchen war! Seine Gesten, seine Posen,alles stimmte! Die anderen nuckelten nur schielend an ihrer Zigarette und krümmten dabei die Schultern. Bradette aber rauchte von ganzem Herzen, mit seinem ganzen Wesen. Er ließ die Zigarette an die Lippen wandern; schloss halb ein Auge, atmete mit ruhiger Begierde ein und schaute in die Luft wie ein Mann, der über Männersachen nachsinnt. Bitter enttäuscht von der Mittelmäßigkeit des Ergebnisses hatte Rocheleau schon seit Langem davon Abstand genommen, ihn nachzuahmen.
»Kann
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