Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Studiums stellte sich Dr. Rocheleau als äußerst schlechter Arzt heraus. Dass er darüber hinaus die Fähigkeit besaß, Mitleid zu empfinden, machte die Sache nicht besser. Die Anforderungen des Berufes erdrückten ihn, und er erstarrte vor der brutalen Wirklichkeit der Krankheiten. Die bange Hoffnung, die er in den Augen seiner Patienten las, beraubte ihn all seiner Mittel. Er ließ sich auf dem Land nieder, weil er sich ein wenig vor sich selbst schämte und um sich aus dem Blickfeld der anderen zurückzuziehen, musste aber aufgrund seiner Missgriffe alle halbe Jahre in ein anderes Nest ziehen. So war er vor zwanzig Jahren in diesem Viertel in der Innenstadt gelandet in der Überlegung, dass er verloren in der Masse größere Chancen hatte, unerkannt zu bleiben. Und eines Abends, als er das Bein eines Väterchens reparierte, machte er die Bekanntschaft jener Frau, die er in seinem Herzen augenblicklich »die Erscheinung« nannte. Da er angenehm im Umgang und sein Äußeres mehr als wohlgeraten war, er außerdem über recht viel Männlichkeit verfügte, brauchte er nur dreimal zu lächeln, um das Mädchen zu erobern. Die alte Frau Rocheleau reagierte auf die Nachricht, wie es sich gehörte, mit bewundernswerter Selbstlosigkeit und stummem Groll. Dennoch gab sie ihr Einverständnis, und die Turteltäubchen heirateten.
Die Auswirkungen, die diese Vereinigung auf den Arzt hatte, waren überwältigend. Das Glück überrollte ihn wie eine Lawine. Es brauchte einige Zeit, bis er sich davon wieder erholt hatte. Der Himmel ließ wie von Irrsinn befallen Jubelstürme über die Erde brausen, dass die Erzengel mit Ach undKrach noch ihre Behausungen erreichten. Die Geschwulste bekamen ein sonderbar lächelndes Antlitz und im Schatten seines Eheglücks berührte ihn das Unglück seiner Kranken fortan weniger, so dass aus Dr. Rocheleau noch ein einigermaßen annehmbarer Arzt wurde.
Er erlag der Versuchung ein einziges Mal, und das auch erst nach drei Jahren gemeinsamen Ehelebens. Das schlechte Gewissen, das er davontrug, machte ihn fast krank, er gab sein Wort, leistete Schwüre, dass es nie wieder vorkommen würde. Seine Frau zeigte Mitgefühl und verzieh ihm. Doch das Übel war geschehen. Zwei Monate später begann die Erscheinung sich allmorgendlich zu übergeben. Sie wechselte unvermittelt zwischen Lachen und Weinen, reihte wie bunte Girlanden eine Kaprize an die nächste, aß rohe Zwiebeln mit Marmelade. Kein Zweifel war mehr möglich: Die alte Frau Rocheleau würde bald Großmutter werden. Der Anfall verliebter Raserei, der den Ehemann an besagtem Abend überkommen und die vor Überraschung halbtote Erscheinung getroffen hatte, bekam plötzlich eine ganz neue Bedeutung! Der Überfall ging mit einem Geschenk einher! Gott schickte ihnen ein Kind …! Die Engel schrien vor Begeisterung.
Sie verstarb bei der Geburt ihres Sohnes; sie wurde keine achtzehn Jahre alt. Auch ohne die Kunstfehler ihres Mannes hätte sie es nicht geschafft, und trotzdem verzieh er es sich nie. Seitdem versank Dr. Rocheleau, der sich selbst überlebt hatte, in Trübsinn. Und er begann allem, was mit ihr zu tun hatte, eine überhöhte Bedeutung zuzuschreiben. Die Tote wurde zu einem Kultgegenstand. Er zog sich langsam aus der Medizin zurück, bis er sie schließlich ganz aufgab, unter anderem weil er sich immer weniger imstande fühlte, Geburten zu begleiten, und am Ende gar nicht mehr. Er hörte in den Schreien derNiederkommenden das Wehklagen seiner Frau, worüber er fast verrückt wurde.
Der vorzeitige Ruhestand brachte ein Leben in Armut mit sich. Das einzige ihm verbleibende Einkommen bezog er von zwei geerbten Pachthöfen. Er hätte im Übrigen finanziell sehr viel besser dastehen können, wenn er – der nie vor Ort die Bücher prüfte und auch niemanden dorthin beorderte – sich nicht von den Bauern nach Strich, Faden und Zwirn übers Ohr hauen ließe. Doch seine Armut war süß, so wie alles eine Süße erlangt hatte, seit die Verstorbene von ihm gegangen war, die säuerliche Süße einer vergangenen Betrübnis, die nicht mehr schmerzte.
Er war der einzige Priester seines Verehrungskultes, aber jeder Priester braucht einen Gläubigen, und Dr. Rocheleau glaubte fest, ihn in seinem Sohn gefunden zu haben.
Allein mit einem mürrischen Vater und einer dahinsiechenden Großmutter, lernte der Kleine erst in der Schule gleichaltrige Kinder kennen. Bis dahin war er in einer Art Museum aufgewachsen, in dem es üblich war, alle Fenster mit
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