Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
»Wohltäters der Witwe«.
Sehr geehrte Frau, sehr geehrtes Fräulein oder sehr geehrter Herr!
Lieber Wohltäter!
Ich erlaube mir, Ihnen unbekannterweise zu schreiben. Da Sie sich, den Einzahlungen auf das Konto der werten Witwe Clément nach zu urteilen, für diese Person zu interessieren scheinen, empfinde ich es als meine Pflicht, Sie über ein Ereignis zu informieren, das sich jüngst bei uns zugetragen hat. Seit mehreren Wochen, wenn nicht gar Monaten meinen einige Bewohner unseres Dorfes zu beobachten, dass sich Madame Cléments Gesundheit verändere, und zwar, wenn ich mich so ausdrücken darf, auf sehr bedauerliche Weise. Ich möchte damit sagen, dass es sich um eine Krankheit handelt, ein Leiden (ich hoffe, ich drücke mich nicht unpassend aus), das die Würde der betroffenen Person beeinträchtigt. Besagtes Leiden zwingt diese Person zu einem Verhalten und zu Handlungen, die sie selbst, davon bin ich voll und ganz überzeugt, auf das Schärfste verurteilen würde, wenn sie bei vollem Bewusstsein wäre, was jedoch offensichtlich nicht der Fall ist. Noch bis vor kurzem konnte man von vernachlässigbaren Extravaganzen sprechen. Leider haben sich die Dinge aber seither in einem Maße verschlimmert, dass es mir zu ihrem eigenen Besten unmöglich scheint, die Dame ihr Geschick weiterhin allein lenken zu lassen. Es ist mir offengestanden höchst unangenehm, den folgenden Zwischenfall zu schildern, und wenn ich es tue, dann nur, um Ihnen zu veranschaulichen, wie die Dinge bestellt sind, und um Sie, falls meine bisherigen Worte nicht ausgereicht haben sollten, vom Ernst der Lage zu überzeugen. Letzten Sonntag zur Zwölfuhrmesse erschien Madame Clément im kurzen Wams und mit entblößtem Gesäß in der Kirche, unschuldig wie ein Säugling und (bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen diese Zeilen schreiben muss) verschmiert mit beiderlei Exkrementen und getrockneten Exkrementen an den Beinen … In diesem traurigen Aufzug begann sie die Leute zu beschimpfen, und es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass sie gänzlich unzusammenhängende Dinge äußerte . Was ist uns jetzt geraten zu tun?, frage ich Sie. Gegenwärtig kümmern sich abwechselnd einige wohltätige Damen um sie. Aber welche Entscheidung sollte langfristig getroffen werden? … Aus diesem Grund wende ich mich im Namen meiner Mitbürger und in Anbetracht des mutmaßlichen Interesses, das Sie für diese arme Seele hegen, an Sie. Falls Sie glauben, in dieser Situation etwas für sie unternehmen zu können, würden Sie wohl die Güte besitzen, den Notar B… darüber zu unterrichten? Das ganze Dorf, soviel kann ich Ihnen versichern, wäre unendlich erleichtert .
Was den Blumenhandel angeht, so habe ich mich selbst eingehend informiert und kann Ihnen versichern, dass er voll und ganz …
Etc .
Clémentine konnte nicht umhin, sich zu fragen, was für ein Buchhalter solche Briefe schrieb. Sie nutzte den Laden als Vorwand, um ein Treffen mit ihm zu vereinbaren. Sie hatte ihr puderblaues Kleid angezogen und ein wenig Lidschatten aufgetragen. Er war ein kleiner Greis mit Schmerbauch – was für ein Reinfall! Sie verließ das Büro bei der ersten sich bietenden Gelegenheit. Auch dem Notar B… stattete sie einen Besuch ab und regelte mit ihm alle Fragen hinsichtlich der Güterverwaltung. Madame Clément besaß immerhin noch einige ansehnliche Ersparnisse, was ihre Tochter nicht unberührt ließ. Als sie das Dorf Saint-Aldor endlich erleichtert hinter sich gelassen hatte, musste sie sich nur noch mit dem Haus der Sainte-Rose-Idarène-de-la-Miséricorde-du-Christ-Roi abstimmen, und schlussendlich fand sich Madame Clément angemessen betreut, zu einem selbstverständlich ordentlichen Preis, in einem Pflegeheim am Ufer des Flusses wieder.
Es gab nichts Keimfreieres als die Bewohner im Hause Sainte-Rose (»Nicht einmal ein Skalpell!«, verkündete die Oberschwester in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete). Aber Sauberkeit bedeutet nicht unbedingt geistige Gesundheit. Die gewaschene, getrocknete, gepflegte alte Dame verbrachte die meiste Zeit damit, ins Leere zu lächeln, wobei sie aussah, als schwenke sie zum Abschied ihr Taschentuch. Clémence musste sich damit abfinden, in ihr die lebendige Auflösung derer zu sehen, die einst ihre Mutter gewesen war. Schon bei ihrem ersten Besuch hatte die Oberschwesterverlautbaren lassen: »Sie wird Sie wahrscheinlich nicht erkennen.« Und doch. Wenn Clémentine, die ihr die ganze Zeit über die Hand hielt, aus
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