Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
ihr allerdings zu schaffen zu machen. Zwar erneuerte sie ihren Schwur jeden Abend, erkannte in ihrer Verbissenheit aber nicht mehr den Ausdruck einer starken und unveränderlichen Liebe, sondern jenen absurden Stolz, mit dem sie seit jeher zu kämpfen hatte. Wenn sie das Bild ihres Verlobten ansah, gelang es ihr für kurze Momente, ihre Inbrunst neu zu entflammen. Aber Fotografien nutzen sich ab, wenn sie zu oft betrachtet werden. Und ihre Leidenschaft war nur noch eine Mumie ihrer selbst. Als Clémentine sich schließlich dazu durchrang, ihr Herz von ihrem Schwur zu befreien, so wie man die Türen eines verlassenen Hauses wieder aufstößt, entdeckte sie in seinem Inneren nur noch Staub und Ruinen, woraufhin sich ihre Einsamkeit zur Krankheit auswuchs, die sich durch die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Alleinseins nur zusätzlich verschlimmerte.
Verhängnisvollerweise musste sie sich mit Anfang Dreißig Hals über Kopf verlieben. Und das zu allem Überfluss in einen Mann, für den es unmöglich war! Ihr ausgetrocknetes Herz füllte sich plötzlich mit Blut, schwoll an wie ein Ballon und erhob Clémentine in ungeahnte Höhen des Leids, wahrhafte siebte Himmel, aus denen sie keuchend und fassungslos wieder hinunterstürzte. Diese Leidenschaft quälte sie seit nunmehr fünf Jahren. Daher war sie einem Klub zur fernschriftlichen Partnervermittlung beigetreten, über den sie postlagernd (Stolz verpflichtet) die Zeitschrift Der Rubikon der einsamen Seelen bezog. Da der Mann, den sie liebte, sie nicht nehmen konnte, schüttete sie ihr Herz anderweitig aus, denn wenn sie alles, was diese Leidenschaft wachgerufen hatte,für sich behielte, würde sie den Verstand verlieren, wie es ihr manchmal zu nächtlicher Stunde zu passieren schien, wenn sie aus dem Schlaf entfloh wie aus einem brennenden Haus und von einem gesichtslosen Gegner verfolgt in wilder Angst aus dem Bett sprang, sich in einem ausweglosen Traum gefangen an den Wänden des Flurs entlangtastete und ihre Flucht im Schrank beendete, wo sie sich mit der Stirn auf den Knien und von den eigenen Armen umschlungen niederkauerte wie ein kleines Mädchen, das vergewaltigt worden war.
Sie hatte gerade ihre Einkäufe erledigt, als ein Rüpel ihr eine Unflätigkeit nachrief. Clémentine ignorierte ihn würdevoll. Daraufhin nannte er sie eine Nutte und beschimpfte sie über einen längeren Straßenabschnitt hinweg mit einem Feuer und einer Ausdrucksvielfalt, die sie erstaunten. »Eine Frau ohne Brust ist wie ein Krüppel ohne Beine«, schrie er dreimal hintereinander. Nicht weit entfernt spielten Kinder, Schüler der École Langevin … Zu Hause angekommen, setzte Clémentine sich an den Küchentisch; sie begann ihre Einkaufstüten auszupacken; plötzlich zitterten ihr die Hände und sie brach in Tränen aus. Sie fragte sich, weshalb in diesem Land Verachtung und Vulgarität stets triumphierten.
Man muss dazusagen, dass es Samstag war, und am Samstagvormittag war sie immer besonders dünnhäutig. Sie schaute auf die Uhr. Es war Zeit, ins Pflegeheim zu gehen und ihre Mutter zu besuchen.
Seit ihrer übereilten Abreise aus Saint-Aldor hatte sie ihrer Mutter an die vierzig Briefe geschrieben, schmerzhafte, flehentliche Briefe, eine Art erklärender Autobiografie von bemerkenswerter Detailfülle, die Madame Clément sich mit ihrer kleinen erhabenen Krämerseele aber zu öffnenweigerte; das ganze Dorf sah zu, wie sie einen nach dem anderen zurück auf die Post brachte. Als keine Briefe mehr kamen, erklärte sie sich dies mit der Undankbarkeit der Kinder und verließ ihren Laden, wann immer sich die Gelegenheit bot, lieferte ihre Blumensendungen eigenhändig aus, damit jeder ihre geröteten Augen sehen konnte. Auf den Affront ihrer Tochter, sich mit einem Holzfäller zu verloben, vor der Ehe schwanger zu werden, aus dem Ort zu fliehen, das Kind womöglich abtreiben zu lassen und ihr dann Briefe zu schreiben, folgte nun der Affront, ihr gar nicht mehr zu schreiben! Von Schuldgefühlen gepeinigt, überwies Clémentine weiterhin gelegentlich Geld auf das Konto ihrer Mutter. Die Überweisungen waren grundsätzlich anonym, doch wusste Madame Clément sehr wohl, von wem sie stammten. Im Übrigen war dies ihrer Meinung nach das Mindeste, was ein Kind tun konnte, das ihr so viel Kummer bereitet hatte. Jahrelang hatten die Witwe Clément und ihre einzige Tochter keinen weiteren Kontakt. Dann erhielt Clémentine eines Morgens vom Kämmerer von Saint-Aldor eine Sendung zu Händen des
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