Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
Wangen, sie knabberte an seinem Ohr und flüsterte »Gaston, Gaston …« Tiefe Abscheu überfiel ihn. Er stieß sie mit aller Kraft von sich. Sie flog rückwärts durchs Zimmer und prallte mit dem Kopf gegen die Wand.
Innerlich brodelnd richtete Gandon sich auf, angespannt, zum Kampf bereit. »Warum steht sie nicht auf!« Wild geworden wollte er sich mit ihr prügeln. Ja, sollten sie doch übereinander herfallen! Sich kratzen! Über den Boden wälzen, sich ins Gesicht schlagen und würgen, dem Ganzen ein für allemal ein Ende bereiten! Und dann auf dem Boden liegen, zerschunden, hechelnd, jeder in seiner Ecke wie ein Hund, der seine Wunden leckt ...
Doch sein Zorn verpuffte, sein Atem beruhigte sich und die Situation erschien ihm in all ihrem Schrecken. Mit beiden Händen packte er sich am Kopf.
Schritte hallten durch das leere Schulgebäude. Er hörte, wie sie näherkamen, im selben Rhythmus wie sein Herzschlag. Dann klopfte es, einmal, ein zweites Mal. Er reagierte nicht. Die Tür ging auf.
Es war Remouald Tremblay. Und hinter ihm der Hausmeister.
»Entschuldigen Sie, Herr Direktor, aber der Herr hier wollte Sie sprechen. Ich bin nur gekommen, um den Papierkorb zu leeren, aber …«
Der Hausmeister erblickte die Lehrerin und verstummte. Remouald musterte sie erstaunt. Ihr Kleid klaffte auf, und sie lehnte mit entblößter Brust zusammengesunken an der Wand. Von dem, was um sie herum geschah, schien sie nichts mitzubekommen. Mit ihrem Ärmel wischte sie das Blut ab, das ihr aus dem Mund floss.
Der Direktor hätte schlicht und einfach zu ihr hingehen und ihr aufhelfen müssen. Genau das wollte er auch tun. Aber er war starr vor Schreck.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte der Hausmeister mit einem peinlich berührten Lächeln.
Gandon hörte, wie die beiden Männer sich wieder entfernten.
* * *
Sie schwiegen lange. Gandon konnte sich nicht von dem idiotischen Gedanken lösen, dass er den Papierkorb jetzt selbst leeren musste. Er sagte:
»Fünf Jahre Freundschaft, und dann das …«
»Ich hätte gedacht, Sie wären ein Mann. Aber Sie sind kein Mann. Sie haben kein Herz. Sie haben nicht mal einen Körper.«
Das hatte sie mit sehr sanfter Stimme gesagt. Gandon packte die Flasche und hätte sie sich am liebsten an den Hals gesetzt, doch plötzlich war sie ihm zuwider und er stellte sie zurück auf den Beistelltisch. Er ging zu Clémentine, die seine Hilfe ablehnte. Sie hinkte zu ihrem Glas. Der Alkohol brannte ihr auf der verwundeten Zunge und sie verzog das Gesicht.
»Ich flehe Sie an, hören Sie auf zu trinken. Und … da … Ihr Kleid …«
Clémentine knöpfte sich den Ausschnitt wieder zu. Er stand an seinem Pult. Zeitweise berührten sich ihre Schultern, und ihre Erschöpfung war so groß, dass sie geneigt waren, sich aneinander zu lehnen. Wie ging man nach so einem Abend auseinander? Gandon konnte nicht mehr denken, sein Kopf war völlig vernebelt.
Clémentine behielt ihre ungesunde, immer gefasste Ruhe, die nur jemand hat, dem nichts mehr etwas bedeutet und der auch bereit ist, das zu beweisen. Gandon schaute sie an. Ihre zerzausten Haare, ihre nachlässige Kleidung, alles, was sie zuvor mit dem Nimbus wilder, anstößiger Schönheit umgeben hatte, verlieh ihr nun, da ihre Raserei wieder erloschen war, das triste Aussehen einer Geisteskranken. Der Direktor wandte sich ab.
Langsam und mechanisch strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. Sie sprach mit erschöpfter Stimme, in einer Art träumerischer Gleichgültigkeit.
»Sind Sie mir böse?«, fragte sie.
Gaston Gandon zögerte.
»Ja. Ich bin Ihnen böse.«
Sie nickte leicht.
»Ich schätze, das ist normal. Auf jeden Fall habe ich keine Angst vor Ihnen. Warum sollte ich Angst vor einem kleinen Jungen haben, der sich hinter seiner Robe versteckt?«
»Hören Sie auf, mich zu beleidigen. Ich bitte Sie im Guten darum.«
Sie beachtete ihn nicht, so als würde sie mit den anderthalb Clémentines sprechen.
»Warum sind Sie Schuldirektor geworden? Um in dieser kleinen Welt bleiben zu können, der einzigen, die Sie kennen, mit Andachten, Speisesälen, Hockeymannschaften,Frühgottesdiensten, und mit Büchern. Sie sind vor dem Leben geflohen, weil die einzigen Sorgen, mit denen Sie zurechtkommen, Kindersorgen sind. Sie sind ein Kind. Sie haben die Gewohnheiten, Vorlieben und Interessen eines kleinen Jungen. Sie verweigern das wahre Leben mit seinem Leid, seinen Freuden, seinen Wahrheiten. Sie denken lieber über theologische Fragen nach
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