Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
sich zusammengesunken, die Beine verdreht, und kaute am Daumennagel.
»Sie sagen also ›Ja‹?«
»…«
»Entweder Ja oder Sie fliegen! Dann können Sie wie alle anderen bei der MacDonald Tobacco arbeiten. Oder in der Spinnerei, wenn da noch was frei ist, was ich bezweifle. Monsieur Hudon hat mir eben anvertraut, dass sein Bruder nach den Feiertagen an die dreißig Arbeiter entlässt. Er will es ihnen nicht gleich sagen, er ist kein schlechter Mensch, er will ihnen Weihnachten nicht verderben. Nun ja, Sie haben die Wahl!«
Plötzlich entkrampfte sich Remoualds Körper, löste sich wie eine sterbende Boa. Sein Gesicht war kreidebleich.
»Wann soll es losgehen?«
Seiner Stimme nach hätte er fragen können: »Um wie viel Uhr werde ich gehängt?«
»Noch heute Abend«, sagte Monsieur Judith und griff nach seinem Mantel. »Sie können vorher kurz nach Hause, wenn Sie möchten, und dann geht’s los zum Bahnhof. Wenn nichts dazwischenkommt, müssten Sie noch vor Tagesanbruch in Saint-Aldor sein.«
Remouald versuchte einen letzten Einwand.
»Ich kann Papa abends nicht allein zu Hause lassen. Er hat im Moment immer Angst. Und seine Suppe …«
»Dann bitten Sie doch einen Nachbarn, Ihrem Herrn Papa sein Essen zu bringen. Morgen Abend sind Sie wieder da. Er wird wohl nicht dran sterben.«
Monsieur Judith schlüpfte in seinen Mantel. Schon halb im Ärmel mit in die Luft gerecktem Arm hielt er inne.
»Was denn! Beeilen Sie sich! Wir haben keine Minute zu verlieren.«
Remouald erhob sich langsam, wie im Rückzug. Demütig hielt er sich den Hut vor den Bauch. Flugs wurde Sarah angezogen, der Direktor nahm sie mit schief geknöpftem Mantel unter den Arm. Im Wagen des Direktors (Remouald war noch nie zuvor in ein Automobil gestiegen) wurde ein Plan aufgestellt. Sie würden einen Abstecher zu Séraphon machen, ihm die Lage erläutern und sich dann ohne weitere Umschweife zum Güterbahnhof begeben.
»Das Problem ist«, sagte Judith, während er versuchte, einen Lastwagen zu überholen, »dass der nächste Passagierzug nach Saint-Aldor erst morgen Mittag fährt. Der Güterzug aber schon in einer halben Stunde. Der Bahnhofsvorsteher ist ein Freund von mir, es ist alles arrangiert. Gut, es wird keinegroße Luxusreise sein, aber Sie sind ja noch jung. Schauen Sie auf die Rückbank«, fuhr der Direktor fort, »da liegt mein Biberpelz, nehmen Sie ihn mit für den Fall, dass der Kleinen kalt wird. Und noch etwas, Sarahs Mutter heißt Tétreault, können Sie sich das merken? Julie Tétreault.«
Sie hielten vor Séraphons Haus.
Remouald wusste nicht, wie man die Wagentür öffnete, und der Direktor musste ihm helfen. Hals über Kopf hastete Remouald die Stufen hinauf.
Sarah blieb kerzengerade neben Monsieur Judith sitzen. Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Er hatte das Gefühl, Luft für sie zu sein. Sie hatte für ihn keinerlei Dankbarkeit oder Zuneigung übrig. Das war alles Remouald vorbehalten …! Wenngleich Kinder ihm gleichgültig waren, ihm sogar auf die Nerven gingen und ihm höchstens ein offizielles Lächeln vor den Kunden entlockten, musste er doch mit den Zähnen knirschen, wenn er sah, dass sein Gehilfe höhere Gunst genoss als er. Noch dazu war sie frech und heuchlerisch: Sie machte ins Bett, schnitt seiner Frau hinter ihrem Rücken Grimassen, und vorgestern hatte er sie erwischt, wie sie mit Streichhölzern spielte: als wollte sie tatsächlich im Wohnzimmer die Gardinen anzünden …! In den dreißig Jahren, die sie glücklich verheiratet waren, hatten Monsieur und Madame Judith – trotz gelegentlicher Unvorsichtigkeiten, einmal sogar in der Küche, als im Wohnzimmer zwanzig Gäste auf sie warteten – sorgfältig darauf geachtet, dass ihnen kein Kind unterkam. Und nach der einen Woche mit Sarah hatten sie ihre Entscheidung nicht bereut!
Aber was sollte er jetzt machen? Er hatte am Telefon mit seiner Frau darüber gesprochen und ihr das Telegramm vorgelesen, das er bekommen hatte: Julie Tétreaut im Sterben . Möchte Sarah Lebewohl sagen. Bitte Rückmeldung zwecks Planung . Sanatorium von Saint-Aldor. Dennoch hatte er Bedenken. »Es lebt sich gut im Waisenhaus heutzutage«, hatte seine Frau zu ihm gesagt.
Die Minuten vergingen und Remouald kam nicht zurück. Monsieur Judith hupte.
Plötzlich tauchte Remouald wieder auf und steckte seinen hochroten Kopf durch das halb geöffnete Wagenfenster.
»Er will nicht! Er will nicht, dass ich weggehe! Er tobt!«
Monsieur Judith stieg aus und entdeckte auch
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