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Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Titel: Die Unbekannten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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seinem Hotelzimmer in Las Vegas träumte Lamar Woolsey, aber er träumte nicht von seiner verstorbenen Frau Estelle.
    Er träumte von einem Casino, so riesig, dass er dessen Wände nicht sehen konnte. Von der Blattgolddecke hingen perfekt aufgereiht zahllose Kronleuchter mit Kristallglasperlen an symmetrischen Schnüren; an jedem der prächtigen Lüster die gleiche Anzahl von eiszapfenförmigen Kristallgehängen in exakt derselben Anordnung.
    Unter dieser grandiosen Deckenbeleuchtung saß er an einem Blackjack-Tisch mit drei anderen Spielern: einer einäugigen Frau, einem einarmigen Mann und einem neunjährigen Jungen, dem ein Vorderzahn fehlte.
    Die Frau trug ein tief ausgeschnittenes Kleid und holte wieder und wieder schwarze Jetons im Wert von hundert Dollar zwischen ihren üppigen Brüsten hervor. Jedes Mal, wenn sie sie auf den Tisch legte, verwandelten sie sich in schwarze Käfer, die zum großen Missvergnügen des Croupiers über den grünen Filz krabbelten.
    Jedes Mal, wenn der einarmige Mann eine Karte bekam, sah er sie angewidert an und warf sie zornig nach dem Croupier, der sie daraufhin dem Jungen gab. Der Junge kannte die Spielregeln nicht und fragte immer wieder: »Hat jemand meine Schwester gesehen? Weiß jemand, wo sie hingegangen ist?«
    Der Schlitten mit den sechs Paketen enthielt gewöhnliche Spielkarten, aber auch Tarotkarten und Bildkarten aus einem Kinderspiel. Lamar gewann ungeachtet dessen, was er in der Hand hatte. Eine Karo-Sechs und ein Kaninchen, das einen Sonnenschirm hielt: gewonnen. Der Gehängte im Tarot und eine Herz-Acht: gewonnen.
    Als Lamars Gewinne beträchtlich angewachsen waren, sagte die einäugige Frau: »Da ist der junge Pipp.«
    Lamar warf einen Blick auf das Kind mit der Zahnlücke, das an dem elliptischen Tisch saß, und sagte: »Das ist nicht Marcus. Das ist er ganz sicher nicht.«
    »Dort drüben«, sagte sie. »Am Roulette-Tisch.«
    Das Roulettespiel fand hinter ihnen statt, nicht in ihrem Blickfeld. Als Lamar sich auf seinem Hocker umdrehte, sah er Marcus Pipp an dem Tisch, den sie gemeint hatte.
    Lamar verließ den Tisch mit seinen Gewinnen in einem Jetonständer, da er die Absicht hatte, alles Marcus zu schenken. Als er den Roulette-Tisch erreichte, war Marcus fort.
    Der Roulette-Tisch war einer von vielen in einer endlosen Reihe. Als Lamar sich im Casino umsah, entdeckte er Marcus vier Tische weiter und eilte auf ihn zu.
    Rotoren drehten sich, Kugeln tanzten und klapperten, und Croupiers riefen die Resultate, die plötzlich alle gleich lauteten: »Doppel-Null … Doppel-Null … Doppel-Null … Doppel-Null …«
    Der Traum wuchs sich nicht zu einem regelrechten Alptraum aus, sondern wurde zu einem Drama flüchtiger Verheißungen und anhaltender Frustration. Lamar verfolgte Marcus von einem Tisch zum nächsten, kam aber
nicht an ihn heran und konnte auch seine Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken. Später, als er im Labyrinth der Einarmigen Banditen einen Blick auf ihn erhaschte, bemühte sich Lamar erfolglos, ihn abzufangen. Noch später entdeckte er Marcus an einem Craps-Tisch, dann an einem anderen, doch Marcus wanderte ziellos umher und entfernte sich dabei von ihm.
    In der Realität tot, im Traum lebendig – Marcus Pipp hatte sich in beiden Fällen davongemacht und war unerreichbar.

34
    Auf dem Weg in die Stadt bekam Tom Appetit.
    In einem kleinen Eckladen, der rund um die Uhr geöffnet war und abgepackte Snacks anbot, kaufte er ein belegtes Baguette, eine Tüte Kartoffelchips und eine Halbliterflasche Coke.
    Zwei Kunden rückten von ihm ab, aber die Verkäuferin hatte ihn schon öfter bedient. Sie nahm einen Teil seines zusammengebettelten Geldes entgegen und gab ihm das Wechselgeld raus, ohne ein Wort zu sagen und ohne ihm ins Gesicht zu sehen.
    In einem nahen Park setzte sich Tom unter einer alten eisernen Laterne, die mehr Atmosphäre als Helligkeit verbreitete, auf eine Bank mit Blick auf die Straße. Beim Essen beobachtete er den Straßenverkehr.
    Hinter der Bank ragte eine riesige Phönix-Palme auf. Wenn der Verkehr vorübergehend nachließ, konnte er Ratten hören, die in ihrem Nest hoch oben in der Baumkrone miteinander zankten.
    Tom hatte zwar nicht viele Unkosten, aber mit dem Schnorren allein waren sie nicht zu decken. Jeden zweiten Monat nahm er einen Bus in die nächste Stadt, arbeitete nachts und stahl genug, um seine Ausgaben auszugleichen.
    In erster Linie brach er in Häuser am Stadtrand ein, wo fehlendes Licht und die Zeitungen mehrerer

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