Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Westküste –, sowie den Leuten, mit denen ich in der Derivate-Abteilung und in unserem Handelssaal im One New York Plaza zu tun haben würde.
Nach den ersten paar Wochen im neuen Job waren meine Monitore rundum mit grünen Klebenotizzetteln beklebt, auf denen all die Daten, Fakten und Namen standen, die ich mir merken musste. Die Schlusszeiten aller Märkte in Europa und Asien. Die Multiplikatoren für alle Futures-und Optionenkontrakte. Die Rufnummer unseres Maklers für Devisengeschäfte. Jede Kleinigkeit war außerordentlich wichtig, und ich musste das alles griffbereit haben, damit ich gute Leistungen zeigen konnte.
Bald war mein Terminal so mit Klebezetteln bepflastert, dass ich kaum noch den Bildschirm sehen konnte. Ich sagte mir, dass ich unbedingt ein System entwickeln musste, um all das auswendig zu lernen. Am Ende gab es aber kein System. Ich lernte durch Zuhören, Zuschauen und Machen, tagein, tagaus. Ein Notizzettel nach dem anderen wanderte in den Papierkorb.
Der 80-Dollar-Verlust durch meinen Fehler war schnell vergessen. Schon bald hielt ich mir auf meine Zuverlässigkeit und Genauigkeit viel zugute. Corey, der in dem Ruf stand, nie Fehler zu machen, bezeichnete mich inzwischen als seinen «franchise pick» – eine Art Mannschaftskapitän beim Football. Den Begriff kannte ich damals nicht, wusste ihn aber bald zu würdigen. Wir beide galten auf dem Parkett als diejenigen, denen man notfalls auch kurz vor dem Abpfiff noch den Ball zuspielen konnte, ohne dass sie unter dem Druck versagten.
Diese Vergleiche mit der Sportwelt sind durchaus passend. Corey war im College in der Basketballmannschaft Point Guard gewesen. Corey und ich hatten die ganze Zeit über so viel zu tun, dass es sich anfühlte, als würde man mit hundert Bällen gleichzeitig spielen. Man musste ständig Prioritäten setzen. Was war wichtiger: diese Transaktion auszuführen, dem Kunden den Preis mitzuteilen oder auf die E-Mail aus der Abteilung Operations zu antworten, damit die Transaktion verbucht werden konnte? Trotzdem führten wir mehr Trades aus als jeder andere. Das Telefon klingelte unaufhörlich, und wir beide stempelten den ganzen Tag lang Ordertickets, bis der Stapel am Abend dreißig Zentimeter hoch war.
Die Verwendung der Tickets wirkte beinahe lächerlich vorsintflutlich. Dergleichen hätte man vielleicht vor dem Ersten Weltkrieg an der Wall Street sehen können. Doch in der Aktienbranche wurden sie aus Compliance-Gründen verlangt. Wir wurden wahre Meister in dieser Disziplin. Vielen bereitete es Probleme, den mittleren Durchschlag herauszureißen. Wir waren einigermaßen stolz darauf, dass wir es jedes Mal schafften, ihn mit schlafwandlerischer Sicherheit glatt herauszutrennen. Viele zerdrückten oder verknickten die Dreifachformulare bei dem Versuch, sie in den schmalen Schlitz des Zeitstempels zu stecken. Immer mal wieder, wenn es gerade etwas ruhiger zuging, versuchten Corey und ich, uns in der Kunst des Stempelns zu übertrumpfen. Ziel war, das Ticket mit einer fließenden, geschmeidigen Bewegung einzuführen und – sssst! – wieder herauszuziehen.
Irgendwer spuckt einem aber immer in die Suppe. Lloyd Blankfein, der Anfang 2003 Vice Chairman war und die Bereiche Fixed Income, Currency and Commodities sowie Equities leitete, schaute gern in unserer Abteilung vorbei, um Daffey hallo zu sagen und das Neueste über seine Freunde Jones, Bacon und Druckenmiller zu erfahren. Lloyd wollte wissen, was die Insider machten.
Eines Tages blieb er an meinem Tisch stehen und zog eine Augenbraue hoch. «Was sind denn das für Tickets, die ihr da verwendet?», fragte er. «Bei Fixed Income gibt es das nicht mehr.»
Das stimmte – das Reich von Lloyd Blankfeins Welt war ein paar Jahre zuvor komplett digitalisiert worden. Corey und ich erklärten ihm, in der altmodischen Aktienbranche sei das eben so.
Als ich anderthalb Monate in der Abteilung war, sah Corey mich an und sagte: «Sie machen sich gut – Zeit für die Feuertaufe.»
Er meinte damit, dass er sich einen Tag freinehmen und mir das ganze Trading-Geschäft allein überlassen wollte. Er hatte mir viel beigebracht, aber er wusste, am meisten würde ich lernen, wenn ich das Chaos allein bewältigen müsste. Obwohl natürlich immer noch alles Mögliche ganz furchtbar schiefgehen konnte, war ich so weit, dass er mir das zutraute. Der Alleingang würde mein Durchhaltevermögen und meine Konzentration auf die Probe stellen und – wenn ich ihn heil überstand
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